Vom großen Glück, keine Ahnung zu haben

Gestern war ich mit einer Freundin in einer Keith Haring Ausstellung (das ist der mit den bunten Strichmännchen). Meine Begleitung, die sich wirklich sehr mit Street Art auskennt, philosophierte über den Übergang von Street Art zu Commercial Art, so wie bei Keith Haring aber auch bei zeitgenössischen Künstlern wie Banksy und Shepard Fairey. “Ahja, Shepard Fairey, mhh”, antwortete ich, wobei ich in Wahrheit überhaupt keine Ahnung hatte, wer das sein sollte. In meinem Kopf erschien ein Schäferhund und eine Fee. Ich hatte wirklich keinen Plan. Ich musste mir einen Ruck geben und fragen: “Du, wer ist denn Shepard Fairey?” Normalerweise mache ich das nicht so oft und täusche lieber Wissen vor. Aber warum ist es eigentlich so schwer keine Ahnung zu haben? Und warum brauchen wir viel mehr davon?


Die Komplexitätsgesellschaft und ihre ständige Fear of missing out

Wir leben in einer Zeit in der jeder kleine Schritt mit Unmengen von Wissen belastet ist. Regelungen, Empfehlungen, Erklärungen, Ausdeutungen verschiedener psychologischer und sozialwissenschaftlicher Disziplinen und vermutlich auch mögliche Management-Studiengänge pflastern den Weg unseres Handelns. In der Komplexitätsgesellschaft gibt es für alles Kompetenzen, Abschlüsse, relevante “skill sets” und Instanzen, die das Wissen darüber wahren und gewinnbringend verteilen.

Wir sind auf beinahe allen Gebieten Ahnungslose.

Dadurch werden wir auf beinahe allen Gebieten zu Ahnungslosen, wir stümpern uns durch die Welt, auch durch die unserer Freizeit. Sich das einzugestehen ist schmerzhaft, und somit auch die zwei Worte “Keine Ahnung”.

In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff FOMO etabliert: Fear of Missing out. FOMO beschreibt die Angst, etwas zu verpassen und sich für die falsche Aktivität entschieden zu haben, was bei einer beinahe unzähligen Auswahl an Optionen nicht zu vermeiden ist. FOMO tritt deshalb vor allem in sozialen Medien auf: Durch Statusmeldungen, Events und Einladungen gibt es immer mehr Dinge herauszufinden, immer mehr zu erleben, immer mehr, wovon man sich eine “Ahnung” bilden kann. Kennst du schon die neue geile Serie auf Netflix, hast du diesen brillianten TED-Talk gesehen, warst du auf diesem spannenden Talk? “Keine Ahnung” ist so schmerzhaft, weil es auch einfach verdammt viel keine Ahnung gibt bei all den Optionen. Das ist bitter, denn es gibt so viele gute Gründe für mehr “Keine Ahnung!” im Leben.

Wer nicht fragt, bleibt dumm – Diskurse führen statt Wissen abklopfen

“Heute werfen wir uns all zu oft Begriffe und Sätze zu wie Konservendosen“, sagt die Philosophin Natalie Knapp. „Wir öffnen sie nicht mehr, weil wir davon ausgehen zu wissen, was drinnen ist.“ Begriffe wie Innovation, Generation Y oder Work-Life-Balance – beispielsweise. Wir schmeißen uns die Dosen zu, ein jeder hat “totale Ahnung” und keiner merkt, dass die Inhalte mittlerweile verfault sind. Wie hilfreich es doch da wäre, einfach mal keine Ahnung zu haben. Meine Lieblings-Konservendose heißt übrigens Bitcoin.

“Du, erklär mir doch mal wie das funktioniert mit den BitCoins.”

Man möge die Menschen, die davon sprechen, doch einfach mal fragen: “Du, erklär mir doch mal wie das funktioniert mit den BitCoins. Ich habe nämlich (sic!) keine Ahnung!”. Ich bin gespannt, wie schnell dann das Thema gewechselt wird. Also: Wer nicht ab und zu keine Ahnung hat, der sorgt dafür, dass Kommunikation scheitert und zu einem reinen Schauspiel wird.

Wir brauchen Antibibliotheken!

Der großartige Umberto Eco soll eine Bibliothek gehabt haben mit allen Büchern, die er noch nicht gelesen hat. Er nannte dies seine Antibibliothek. Menschen, die eine solche Sammlung besitzen, beginnen Wissen nicht als Schatz oder als Mittel zur Steigerung ihrer Selbstachtung zu behandeln. Eco wusste, dass gelesene Bücher längst nicht so wertvoll sind, wie ungelesene. Erlangtes Wissen längst nicht so wertvoll, wie die Neugier, die dich zur nächsten Erkenntnis bringt.

Menschen sollten mit Antilebensläufen rumlaufen, die deutlich machen, was sie noch lernen möchten

Mich hat diese Antibibliothek von Eco sehr begeistert und man kann den Gedanken auf so vieles übertragen: Menschen sollten mit Antilebensläufen rumlaufen, die deutlich machen, was man noch lernen möchte und in Anti-Fakultäten an Dingen forschen, die über die noch wenig bekannt ist. Kurz gesagt: sich mehr mit Dingen beschäftigen, von denen sie keine Ahnung haben.

Denn gerade in einer Zeit der Umbrüche, in der “Disruption the new normal” sein soll, ist doch viel mehr der Unwissende, als der Wissende gebraucht, nicht der der vermeintliche stabile Wissensgebäude bewohnt, sondern der der Wissen immer neu zusammenstellt, immer neu dazulernen kann. Und das fängt eben meistens mit einem neugierigen “Keine Ahnung” an.

Keine Ahnung schafft Vertrauen

Wir alle kennen das: Wissendiskurse sind immer auch Machtspielchen. “Ey yo kennst du Den und Den? Nein? Dann bist du ein Opfer (KIZ)”. Doch wenn in Gesprächen immer alle alles wissen, kann niemals Vertrauen aufgebaut werden. Eigentlich brauche ich mein Gegenüber dann ja gar nicht. Meistens sind solche Gespräche ohnehin nur ein gegenseitiges sich-auf-die-Schulter klopfen. Wieviel Ahnung wir doch haben!

Vertrauensaufbau ist aber nur möglich in einem Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen, sagt der Kulturwissenschaftler Byung Chul Han. Weiß ich im Vorfeld alles (oder tue zumindest so) so erübrigt sich das Vertrauen. Weiß keiner irgendwas, kann man sich das Vertrauen natürlich auch schenken. Sage ich aber “Keine Ahnung” und meine damit “erklär mir das”, kann sich die Möglichkeit ergeben, etwas neues zu lernen und nicht zuletzt eine vertrauensvolle menschliche Beziehung aufzubauen.

“Keine Ahnung” zeigt Charakterstärke

Und vielleicht ist es gerade das, was unserer Gesellschaft fehlt: mehr offenes voneinander Lernenwollen. Und auch, derjenige der zugibt “Keine Ahnung” zu haben, ist vertrauenswürdiger, weil er schon einmal zeigt, dass er weiß wo seine Grenzen sind. “Keine Ahnung” zeugt also auch von Charakterstärke, ungefähr so wie sich helfen lassen. Die Realität ist aber eine andere: 94% der Schweden sind sich beispielsweise sicher, dass sie von ihren Fahrkünsten, zu den oberen 50% gehören. Ich hoffe sie fahren nicht alle dementsprechend. “Ich weiß, dass ich nichts weiß”, ist sozusagen das philosophisch verpackte Keine-Ahnung-haben. 

Es gibt zwei Arten keine Ahnung zu haben

“Keine Ahnung” gibt es übrigens in zwei Arten. Wenn mich jemand fragt, warum sich die langjährigen Freunde Albert Camus und Jean-Paul Sartre so bitter zerstritten haben, dann ist das “Keine Ahnung”, was ich darauf antworte ein ganz entschieden anderes als wenn ich danach gefragt werde, wer 2014 Dschungelkönig bei RTLII geworden ist.

Letzteres “Keine Ahnung” finde ich sehr schön und wertvoll. Es ist das “ich muss nicht jeden Mist wissen”-Keine-Ahnung. Denn hier geht es echt um Wissen-müssen: Wenn Wissen Macht ist, und Hierarchien strukturiert, dann kann ein “Keine Ahnung” auch Dissidenz sein.

Wenn Wissen Macht ist, dann kann ein “Keine Ahnung” auch Dissidenz sein.

Dann kann man sich dadurch diesen Strukturen bewusst entziehen. Die scheinbar harmlose Frage nach dem Dschungelkönig ist auch eine Unterwerfungsaufforderung in ein Wissens- und Relevanzsystem. Und Keine Ahnung die Verneinung dessen.

“Die Herausforderung besteht nicht darin zurechtzukommen, sondern nicht zurechtzukommen, d.h. Jeden Weg allein zu gehen, jeden Maßstab selbst zu gewinnen, jeden Wert selbst zu erschaffen”, hat der schwer vermisste Roger Willemsen einmal geschrieben. Und dazu gehört es auch eigene Maßstäbe zu entwickeln, wovon man eine Ahnung haben möchte und wovon ganz bestimmt nicht.

Denn vielleicht stimmt es gar nicht, dass die Komplexität in unserer Gesellschaft steigt. Vielleicht steigt nur unsere Angst vor der Komplexität, weil wir nicht gelernt haben mit ihr richtig umzugehen.

Wir brauchen nicht weniger Komplexität, sondern die Fähigkeit zu entscheiden, was wir wissen wollen – und was nicht.

Vielleicht brauchen wir deshalb nicht weniger Komplexität, sondern vielmehr die Fähigkeit zu entscheiden, was wir wissen wollen – und was nicht. In diesem Sinne: Ich weiß kaum etwas über das Dschungelcamp, aber ich versuche weniger zu wissen.

Übrigens, Shepard Fairey ist der mit dem “Obama Hope-Poster”. Und warum Camus und Sartre sich zerstritten haben? Ganz ehrlich, keine Ahnung!

Beitragsbild: CC0, Ben White

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