Verdrängungspolitik und neue Formen des Widerstands

Am Hansaplatz in Hamburg prallen immer schon soziale Gegensätze aufeinander. Die Nachbarschaft besteht aus dem Hauptbahnhof, dem Schauspielhaus und der Hotelmeile in der Bremer Reihe, der gentrifizierten Langen Reihe mit Cafés, Feinkostläden und Boutiquen. Ein paar Hundert Meter weiter liegt das Drop-In, wo Junkies* saubere Spritzen bekommen und das Münzviertel, in dem vor kurzem im Kollektiven Zentrum (KoZe) eine kreative linke Bewegung entstand. Der Hansaplatz ist ein umkämpfter Raum. Hier stehen stattliche Gründerzeithäuser, in denen besser gestellte Bildungsbürger*innen und Mitglieder der Hamburger High Society leben.

Allen voran residierte hier lange Zeit der ehemalige Glamour-Bürgermeister Ole von Beust. Der ehemalige Bezirksamtschef von St. Georg, Markus Schreiber, ist mittlerweile Prokurist der Außenalster WPB Holding, die unter anderem auch Bauherrin vieler dieser Luxuswohnungen am Hansaplatz ist. Ein Quadratmeter kostet hier laut Hamburger Morgenpost bis zu 6.000 Euro. Inmitten der kostspieligen Wohnlage steht der imposante Hansabrunnen aus dem Jahre 1878. Seit den 1990er Jahren diente er stets als Treffpunkt von Alkoholiker*innen, Junk*ies und Drogendealer*innen.

Mitte der Nuller Jahre ging die Stadt in die Offensive und trieb die „Aufwertung“ voran. Der erste Schritt: Überwachung und Vertreibung der „unliebsamen Elemente“. Es wurden Videokameras installiert, die aber nach Protesten einiger Anwohner*innen im Zuge einer 2,4 Millionen teuren Umgestaltung des Platzes wieder abgenommen wurden. Daraufhin kehrten die „unliebsamen Elemente“ wieder an den Hansaplatz zurück. Wiederum andere Anwohner*innen und Gewerbetreibende gingen nun auf die Barrikaden und schrieben einen Brandbrief an Bürgermeister Scholz: Das Viertel verwahrlose.

Sie wollten nicht länger hinnehmen, dass ihre Kinder in Spritzen und Menschenkot spielten. Auch die Prostituierten und „kriminelle Ausländer“ wolle man loswerden. Gefordert wurden stärkere Polizeipatrouillen, Wiedereinführung der Videoüberwachung und die Wiedererrichtung des Bauzauns, der im Zuge der mittlerweile abgeschlossenen Baumaßnahmen den Platz weiträumig abgesperrt und somit auch für unerwünschte Mitbürger*innen unbetretbar gemacht hatte.

Ich komme unerwartet pünktlich am Hauptbahnhof an und beschließe, die mir noch verbleibende Zeit bis zu einer Verabredung mit einem Spaziergang herumzubringen. Am Hansaplatz werde ich den Eindruck nicht los, dass hier irgendetwas fehlt. Suchend schleiche ich um den sonnenbeschienenen Brunnen. Ich bemerke, dass die Tauben viel hektischer fliegen, als ich es von früher gewohnt bin. In meiner Erinnerung scharren sie sich immer um die eine oder andere Stelle, wo ein älterer Mensch mit einem Hackenporsche sitzt und trockenes Brot verteilt. Doch kein Taubenschwarm, keine Brotkrümel, kein Hackenporsche, kein älterer Mensch. Aber natürlich: Auf dem nicht gerade kleinen Platz befindet sich keine einzige Sitzgelegenheit mehr!

Ich bin schon fast um den ganzen Brunnen rum, als ich im Halbschatten, neben einem Fahrradständer, dann doch noch drei Gestalten auf einer Bierbank sitzen sehe. Sie sind beim Frühschoppen. Ich schaue genauer hin. Auf beiden Enden der Bank befinden sich Vorder- und Hinterteil eines Fahrrads, etwa so wie sich bei einem Dackel an beiden Enden des Wurstkörpers Vorder- und Hinterteil eines Hundes befinden. Am Hinterteil der Fahrrad-Bank ist auch ein Sattel angebracht; weiter unten Pedale, mit denen sich der Hinterreifen antreiben lassen. Es gibt an beiden Enden einen Lenker. Wie ich später herausfinden sollte, wurden diese zum Fahren mit zwei Schnüren von Lenkerende zu Lenkerende verbunden, sodass man von hinten den Vorderreifen bewegen kann.

Irgendwie beißt sich die Bank ästhetisch mit ihrer Umgebung: Die Felgen sind knallgrün, die Bank neonpink angestrichen. Das Gefährt sieht so aus, als wäre es während einer hedonistischen Rave-Party auf Alpha Centauri in ein Wurmloch geraten und nur aufgrund eines unfassbaren Zufalls vor dem siebzehn Meter hohen Brunnen aus dem 19. Jahrhundert gelandet. Es ist die Cola-Flasche aus dem Film “Die Götter müssen verrückt sein”.

Auf der mobilen Bierbank geht es heiter zu. Ein Trinker im Zweireiher macht einen zotigen Spruch. Ein anderer lacht laut los und sie stoßen mit Oettinger an. Eine Frau in roter Jacke sitzt in der Mitte. Sie haut dem Zweireiher einen vor den Latz, sodass der fast von der Bank kippt. Zwischendurch das Ploppen von Kronkorken, das Klirren von aneinanderstoßenden Flaschen, das Gluckern vom Schlucken.

Die Sonne ist gewandert und die drei halten sich die Hand als Lichtschutz vor die Augen. Ein junger, größerer Mann geht dicht an ihnen vorbei und macht sich am Schloss zu schaffen. Plötzlich stehen sie um ihn herum und versuchen ihn davon abzuhalten, „ihre Sitzgelegenheit mitzunehmen“. Die Frau in der roten Jacke taxiert den jungen Mann, der hilflos mit seinem Schlüssel gestikuliert: „Wo willst du mit dem Bank-Bike hin?“ Als er nicht sofort antwortet, zückt sie ihr weißes Oversize-Handy und richtet die Kamera auf ihn: „Ich mach ein Foto von dir. Wenn du das gerade klaust, erkennen wir dich wieder!“

Im 900 Meter entfernten Kollektiven Zentrum (KoZe) basteln ca. 50 Aktivist*innen an Lebensformen jenseits der Verwertungslogik. Nach der Besetzung der ehemaligen Gehörlosenschule im Juli 2014 und der anschließenden Räumung haben sich die Quartiersinitiative und der das Grundstück verwaltende Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) auf eine vertragliche Zwischenlösung geeinigt. Seitdem kommen immer mehr Münzviertler*innen und interessierte Hamburger*innen aus anderen Stadtteilen und verwirklichen sich hier auf drei Etagen in verschiedenen Projekten. Es gibt mittlerweile eine Fahrradwerkstatt, einen Lese- und Arbeitsraum, einen Umsonstladen und die Essenskooperative „Tante Münze“. Ein paar Physik- und Informatiknerds haben den defekten Fahrstuhl wieder in Gang gebracht und ihn zu einer Art Multimedia-Raumschiff ausgebaut. Während der Fahrt sitzt man auf Kinosesseln und wird zu einigen sehr genialen Skalen aus dem Soundtrack der Animeserie „Cowboy Bebop“ nach oben geführt. Das Rauchen ist dabei gestattet. Der Liftboy passt Musik- und Fahrtgeschwindigkeit, sowie Luftaustausch an die Bedürfnisse seiner Fahrgäste an. Steigt man ein Stockwerk weiter oben aus, findet man eine zweite, etwas experimentellere Fahrradwerkstatt, die sich die Anarcho-Rad-Ingenieure von „Non-Stop Schwitzen“ und „Radpropaganda“ teilen.

Neben zweimeterhohen Fahrrädern, die eigentlich aus jeweils drei zusammengeschweißten bestehen, treffe ich den jungen Mann vom Hansaplatz wieder. Er heißt Tim Kaiser und gehört zu „Radpropaganda“. Die Idee von „Radpropaganda“ ist eine von urbaner Intervention und Rückeroberung des öffentlichen Raums. Das gemeinsame Radcafé nutzen sie als einen Thinktank, als Ort der Vernetzung und als Kompetenzzentrum.

„Wir wollten das Rad eigentlich immer wieder an neue Plätze stellen, um an diversen Orten in der Stadt zu einem Bewusstsein für die Verdrängungspolitik beizutragen “, sagt er über das Bank-Bike, das während eines internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel entstand. „Es stand seit dem Brandbrief bereits mehrere Monate am Hansaplatz. An dem Tag wollten wir damit einen Ausflug zum Chaos-Computer-Club-Kongress machen. Anschließend hab ich es vor die Galerie Genscher, ein befreundetes Projekt in St. Pauli, gestellt.“

Der Standortwechsel wird jedoch bald schon bereut. In St. Pauli wird das Rad nach nicht einmal einem Tag zerstört. Der Sattel wird entfernt, das Licht abmontiert, die Bank wird total eingesifft. Jetzt steht das Rad wieder in der Werkstatt, auf dem Balkon des Kollektiven Zentrums zur Generalüberholung.

„Dieses Bild, wie diese Frau mir da hinterherruft, das hat was mit mir gemacht“, sagt Tim Kaiser nachdenklich. Ihre enorme Wertschätzung des Rades, gerade im Vergleich zu der geringen, die es in St. Pauli erfahren hat, machte ihm erst bewusst, wie sehr die politische Bedeutung des Bank-Bikes von dem Ort abhängig ist, an dem es steht.

Wir sprechen über die Entwicklungen am Hansaplatz und über Stadtentwicklungspolitik. Über Gentrifizierung und Beschleunigung: Hamburg hat derzeit den vierthöchsten Mietspiegel Deutschlands. Der Immobiliensektor wirft immer höhere Renditen ab. Die Stadtplanung befördert die Wertsteigerung. Durch Verschönerungsmaßnahmen, nicht selten auf Kosten der Heterogenität und unter Zuhilfenahme von restriktiven Maßnahmen.

Wie im Falle des Hansaplatzes soll durch Kriminalisierung und Vertreibung die Lage und damit der Preis des sanierten Altbaus verbessert werden.

Ein weiterer Grundsatz der Stadtplanung ist ein alter Hut, der auch in Hamburg immer wieder zum Tragen kommt. Sowohl die Verbreiterung der A7 als auch das omnipräsente Bauvorhaben Busbeschleunigung entspricht noch der verkehrspolitischen Devise aus dem 18. Jahrhundert „schneller, öfter, mehr!“ Der Wegfall der öffentlichen Sitzplätze vereint beide Grundsätze. Der städtische Raum wird beschleunigt, indem er zur effizienteren Verkehrsroute (etwa vom Wohnraum zum Arbeitsplatz) ausgebaut wird, und er wird gentrifiziert, indem ein Verweilen in Cafés, Restaurants und Imbissbuden mit Konsumzwang verbunden wird.

Daher ist das Bank-Bike ein exzellentes Beispiel von passivem Widerstand, von kontraproduktiver Intervention. Deutlich erkennbar an dem Fahrradschloss, stellt es privates Eigentum dar, auf dessen Schutz sich ja auch die Entfernung der Bänke bezieht. Zum anderen ist es als Fahrrad ein Fortbewegungsmittel und entspricht damit auch dem Grundsatz der Beschleunigung. Hinzu kommt, dass es als Kunstobjekt im öffentlichen Raum auch dem Konzept der Aufwertung und somit der Gentrifizierung entspricht.

Die Genialität des Bank-Bikes kam hier am Hansa-Platz erst so richtig zur Entfaltung. Es gibt nicht nur den drei Trinker*innen die Sitzplätze zurück, die ihnen in der Absicht, sie zu vertreiben, weggenommen wurden. Es entspricht der Form nach auch den Grundsätzen der Stadtplanungspolitik, gegen die es ankämpft. Damit nimmt es den Verantwortlichen von Aufwertun

Nächste Woche kommt das Bank-Bike wieder an den Hansaplatz. Und auch wenn auf vielen Fotos zu sehen ist, wie darauf zuvor hauptsächlich das bisschen Sonne in St. Georg genossen wurde, wird es in Zukunft ein kleines Stückchen weiter weg im Schatten stehen.

„Das war nämlich ihr Wunsch!“, sagt Kaiser. Tatsächlich hat die „ältere Dame mit street credibility“ ihn wiedererkannt und auf das Bank-Bike angesprochen. Jetzt weiß Kaiser: „Bevor die Bänke entfernt wurden, hatten sie lieber im Schatten getrunken.“ Vielleicht ist es ja auch diese kleine Geste, die Radpropaganda auszeichnet: Dass sie mit ihren Nutzer*innen in Kontakt kommen und ihnen zuhören. Damit räumen sie auch mit ihren eigenen Vorurteilen auf. Denn auch wenn sie keinen Platz an der Sonne wollte. Sie wollte das Bank-Bike.

 

Autor: Kolja Unger (Foto: Korhan Özbeck)

Aufgewachsen in Hamburg und im Raumschiffrock, Studium Literarisches Schreiben in Hildesheim, seit 2014 freier Autor für verschiedene Medien in Berlin.

 


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Dieser Beitrag ist Teil der ersten Ausgabe von transform – dem Magazin für’s Gute Leben. Dieses Heft, kannst du direkt in digitaler oder Papierform bestellen.

Beitragsbild: Tim Kaiser (CC-BY-NC-SA-4.0)

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