Lebensmittel umsonst! Weil sie es wert sind.

Zufrieden schaut Jonas* auf den überfüllten Tisch. Obst, Gemüse, eingeschweißte Brote und sogar ein paar Saftpackungen stapeln sich in der Küche. Dass sie dort landen, war aber nicht geplant eigentlich sollten sie vernichtet werden. Die Bananen haben ein paar braune Stellen, der TetraPak eine eingedellte Ecke, und die anderen Produkte stehen kurz vor oder nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Jonas fischte „die heutige Ausbeute“ aus mehreren Containern von Supermärkten. Das ist nicht ganz legal wohl auch aus diesem Grund schaut er etwas spitzbübisch auf sein Sortiment.

Seine nächtliche Tour ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel, denn die Müllcontainer unserer Konsumgesellschaft sind gut gefüllt. Mit den Nahrungsmitteln entsorgen wir zugleich den entsprechenden Wasser-, Ressourcen- und Energieverbrauch und die Arbeitsleistung für die Produktion. Bei Milchprodukten und Eiern kommt vermeidbares Tierleid hinzu – wobei manche einwerfen mögen, dass Tierleid stets vermeidbar sei.

In studentischen und grün-alternativen Kreisen gehört das Containern fast schon zum guten Ton. Die meisten Menschen verbinden mit diesen nächtlichen Streifzügen aber in allererster Linie Ekel, Müll und Bedürftigkeit. Im Müll nach Essen suchen – das ist doch abstoßend und armselig! Und sollten von diesen Lebensmitteln nicht die profitieren, die darauf „wirklich angewiesen sind“, statt privilegierte Studierende und selbsternannte Alternative?

Nein. Es ist genug für alle da.

Einer Studie zufolge wirft in der EU jede und jeder 123 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr in den Müll – das entspricht 16 Prozent aller Lebensmittel, die die Endverbrauchenden erreichen. Nach einer Studie der Universität Stuttgart beläuft sich die Masse von weggeworfenen Lebensmitteln in Deutschland insgesamt auf knapp 11 Millionen Tonnen jährlich. Ein Großteil davon, etwa 60 Prozent, fällt nicht beim Großhandel oder in der Gastronomie an, sondern bei den Endverbrauchern – bei uns.

Das Wegwerfen von Lebensmitteln zu vermeiden und den Einkauf vorausschauend zu planen, ist sicherlich der erste Schritt, um die Verschwendung anzugehen. Die Lebensmittel zu verwerten, die nicht mehr „marktfähig“ sind, ist der Nächste.

Dazu muss schon längst niemand mehr in Container steigen und rechtliche Grauzonen austesten. Es gibt eine Alternative: Über die Plattform lebensmittelretten.de sind 13.000 Mitglieder mit über 2.000 Bäckereien, Restaurants oder Supermärkten vernetzt, deren Überschüsse geregelt abgeholt werden. Nach drei Probeabholungen bekommen die Neu-Mitglieder einen Ausweis und können dann loslegen. Genutzt wird die Webseite immer mehr – unzählige Tonnen Lebensmittel konnten schon vor den Abfalleimern „gerettet“ werden. Die Plattform steht dabei in keinerlei Konkurrenz zu den Tafeln, die oft schon durch wenige Großpartner überversorgt sind und selber Unmengen Nahrungsmittel wegwerfen. Außerdem lohnt es sich für die zentral organisierten Tafeln größtenteils gar nicht, bei all den kleinen, mittelständischen Betrieben Lebensmittel abzuholen. Kritisiert wird, dass die Plattform das Retten von Lebensmitteln unnötig bürokratisiere: Hausbesetzende, die seit unzähligen Jahren übrig gebliebenes Obst vom Wochenmarkt abholen, werden heute unter Umständen nach einem Foodsaver-Ausweis gefragt. Dennoch überwiegen die Vorteile. Die Bäckereien und Gemüsehändler können sich nun dank der Plattform auf die Abholungen einstellen. Das senkt nicht zuletzt ihr Müllaufkommen. Gleichzeitig ist die Hemmschwelle, Lebensmittel zu retten, geringer. Statt in Containern nach Essbarem zu suchen, gibt es das nun direkt von der Theke. Und das für alle. Auf der Plattform wird ganz bewusst auf jegliche „Bedürftigkeitsprüfung“ verzichtet – schließlich werden Unmengen unserer Nahrungsmittel weggeschmissen.

Nicht zuletzt, um diese Massen deutlich zu machen, um Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und dabei Spaß zu haben, entstanden die „Schnippeldiskos“. Gemeinsam schrubben, schnippeln und kochen AktivistInnen bei Musik und guter Stimmung Nahrungsmittel, die für den Müll bestimmt waren. Die erste Schnippeldisko fand 2012 in Berlin statt, als 300 Schnippelnde zu elektronischer Musik der Green Music Initiative aus einem Haufen „nicht marktkonformen“ Gemüses ganze 9.000 Portionen Suppe zauberten. Die Suppe wurde anschließend an hungrige Demonstranten der Demo „Wir-haben-es-satt!“, für eine zukunftsfähige Landwirtschaft und Ernährung, verteilt. Inzwischen gibt es ähnliche Bewegungen in vielen Ländern. In Südkorea heißt die Idee YO RI GA MU, in Frankreich „Disco Soupe“.

Wer selbst eher weniger Spaß am Kochen hat, kann inzwischen auf immer mehr Restaurants oder Caterer zurückzugreifen, die auf weggeworfene oder nicht marktfähige Lebensmittel setzen. Da gäbe es in Berlin beispielsweise den Caterer Culinary Misfits oder das Real Junk Food Project. Auch das Restaurant „Restlos Glücklich“ der Hauptstadt wurde bereits überregional bekannt. Auch ohne eigenes Restaurant engagieren sich viele Köche und Köchinnen gegen Lebensmittelverschwendung, etwa David Gross mit seinem Team von Wastecooking.

Rechtliches zum Containern

Auch wenn Lebensmittel weggeworfen werden, gehören sie noch dem jeweiligen Supermarkt oder Händler. Da Müllbehälter oft in Hinterhöfen stehen und nicht selten abgeschlossen sind, begehen Menschen, die weggeworfene Lebensmittel „retten“, rechtlich gesehen häufig Hausfriedensbruch (§123/§124 StGB). Schlösser oder Türen zu beschädigen ist natürlich strafbar (Sachbeschädigung, § 303 StGB). Es gab in der Tat einige Verurteilungen und anschließende Diskussionen in den Medien und juristischen Kreisen. Die rechtliche Frage lautete, ob die weggeworfenen Lebensmittel noch fremd im Sinne von § 242 StGB und damit diebstahlsfähig seien, oder ob die Märkte mit dem Wegwerfen ihren Besitzwillen daran aufgaben, der Müll damit „herrenlos“ (nach § 959 BGB) sei. Kommt es tatsächlich zu einer Anklage, wird jedoch in der Regel von den Gerichten oder Staatsanwaltschaften kein Verfahren in die Wege geleitet, da die Schuld beziehungsweise der verursachte Schaden zu gering ist.

Es gibt also viele Wege, sich gegen das Wegwerfen von Nahrungsmitteln zu engagieren. Doch obwohl sich immer mehr Menschen mit dem Thema auseinandersetzen: Die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln bleibt auf einem hohem Niveau. Dabei ermöglicht das „Retten“ im besten Fall auch etwas Unabhängigkeit von Lohnarbeit – je nach Umfang des Rettens kann der Wocheneinkauf schließlich eklatant weniger kosten. Wird diese Unabhängigkeit aber nicht umweltbewusst genutzt, sondern das gesparte Geld in einen Flug investiert, sieht auch die Ökobilanz des Lebensmittelrettens wesentlich negativer aus. Besser ist wohl eine Investition in gute Einmachgläser oder einen Entsafter für frei zugängliches Obst. Das nötige Obst lässt sich dann gleich über die Plattform mundraub.org finden.

Jonas aber sammelt frei zugängliches Obst nur selten. Mit Lebensmittelretten kommt der Student locker durchs Semester, dank der Geldersparnis muss er auch weniger neben dem Studium jobben. Wenn er im Sommer bei seinen Großeltern auf dem Land ist, pflückt er dann ihr Obst und das mancher Nachbarn. Die anschließende Marmeladenproduktion ist fast schon Familientradition. Und das funktioniert sogar ohne jede Plattform.

Der kleine, feine Unterschied: Mindesthaltbarkeitsdatum  & Verbrauchsdatum

Viele richten sich bei der Beurteilung, ob „etwas noch gut ist“, nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum. Dieses Datum drückt jedoch nur die Garantie des Herstellers aus, dass das Lebensmittel bei korrekter Lagerung die vorgesehene Qualität und den mikrobiologischen Zustand behält. Mit anderen Worten: Es schmeckt so wie es soll, und die Laborwerte sind im Vergleich zum frisch produzierten Lebensmittel vergleichbar. Dieses Datum ist nur mäßig aussagekräftig, was die tatsächliche Genießbarkeit angeht. Schließlich haben selbst Salz und Mineralwasser ein Mindesthaltbarkeitsdatum.
Steht auf der Packung jedoch „Zu verbrauchen bis…“, oft gekoppelt an eine Lagertemperatur, ist damit das Verfallsdatum oder Verbrauchsdatum gemeint. Dabei handelt es sich in der Regel um sehr empfindliches Lebensmittel (wie Hackfleisch, rohe Eier/Fisch etc.). Dieses Datum sollte eingehalten werden.
Selber Lebensmittel retten – spannende Links:

Der Artikel erschien zuerst in unser gedruckten Ausgabe zum Thema “Empathie”. Das kannst du dir hier bestellen.

Beitragsbild:”Wall_Food_10473” von Michael Stern. Lizenz: CC BY 2.0

* Der Name wurde von der Redaktion nicht geändert ;)

Mehr zum Thema:

Container Cuisine

Newsletter


Auch spannend
Diese Programme sind die Software For Future