Ein Ort der Begegnung

Heimat ist ein Begriff, der notorisch schwer zu definieren ist. Ist Heimat dort, wo mein Heim steht oder dort, wo ich mich zuhause fühle? Ist es der Ort, aus dem ich komme, oder der, den ich mir zum Leben ausgesucht habe? Ist Heimat zwingend mit einem Ort verbunden, oder besteht sie eigentlich aus den Menschen, mit denen ich tagtäglich Umgang habe – oder gerne tagtäglich Umgang haben würde? Ist Heimat nur eine Sehnsucht, eine Idee, oder ist sie Wirklichkeit?

Was auch immer sie genau ist: Heimat, das steht für Geborgenheit, für Stabilität, für Tradition. Das alles klingt nach sehr konservativen Werten. Ist Heimat daher ein Begriff, den nur Konservative definieren können? Das muss so wohl nicht sein: Zuletzt haben ihn auch verschiedene Vertreter der politischen Linken als Begriff entdeckt. Katrin Göring-Eckardt bespricht Heimat genauso offen wie Sigmar Gabriel. Viele Menschen, so heißt es, fühlten sich in diesen unsicheren Zeiten, in denen es keine klare Orientierung gibt, entwurzelt und würden ihren Sinn wieder über ihre Zugehörigkeit finden. Und man dürfe Heimat nicht den Rechten überlassen.

Ist “Heimat” auf ewig ein rechter Begriff?

Sicherheit, Schutz, die eigene Identität: Ist das alles, was „Heimat“ kann? Ist Heimat unrettbar konservativ und auf ewig dazu verdammt, potenziell von Alt-Nazis und Neu-Rechten missbraucht zu werden? Ich glaube, dass auch Heimat für Offenheit und Neugier stehen kann. Aber warum ist der Heimatbegriff bei Linken so unbeliebt und wie können wir diesen Begriff weiter denken?

Ein Bild wie ein Heimatfilm der 1950er

Tatsächlich kann der Heimatbegriff bei progressiv Eingestellten durchaus zu Abwehrreaktionen führen, wie man zum Beispiel aus verschiedenen Beiträgen in der TAZ heraushören kann. Es wird aufgeführt, dass Heimat für eine Art „wir gegen die“ steht (oder stehen kann), also die Welt in solche aufteilt, die zu einer Heimat gehören und solche, die nicht dazu gehören.

Begriffe wie “Heimat”, “Familie”, “Tradition” führen manchmal zu reflexhaften Abwehrbewegungen.

Heimat scheint damit ein ähnliches Schicksal zu haben wie der Begriff „Familie“: Als ich in einem Beitrag den modernen Familienbegriff als Vorbild für ein Gesellschaftsmodell vorschlug, kommentierte ein Facebook-Nutzer sinngemäß, dass Familie doch eher ein einengendes Gefängnis ist als ein inklusives Modell.

Ich kann nur spekulieren, warum die Begriffe Heimat und Familie derart aufgefasst werden. Mich beschleicht immer wieder das Gefühl, dass sich hier ein Bild von Heimat und Familie eingebrannt hat, das aus einer Zeit stammt, als konservative Bilder das Öffentliche beherrschten: Wie in einem Heimatfilm (das Wort allein!) der 1950er Jahre. In denen brave, gebärfreudige Madeln und fesche, eroberungswillige Burschen umeinander buhlten. In denen patriarchale Kleinfamilien das einzig heilsbringende Lebensmodell waren. Also echte Gefängnisse.

Ergebnis bei der flickr-Suche nach Bildern mit dem Tag “Heimat”

Geben wir den Suchbegriff „Heimat“ zum Beispiel bei der Bildersuche von flickr ein, begegnen unser lauter Fotos, die zumindest graphisch eben dieses Bild von Heimat abgeben: ländliche Idyllen, grüne Hügel, verwunschene Häuschen. Das mag sicher auch daran liegen, dass nach wie vor ein großer Teil der Deutschen im (eher) ländlichen bis kleinstädtischen Raum leben. Zudem ist dies ein Bild von Heimat, das die deutsche Romantik entscheidend mitgeprägt hat (und welches danach als Bollwerk gegen alles Andersartige pervertiert wurde).

Vielfältige Lebensentwürfe sind keine Erfindung unserer Moderne

Aber muss es quasi naturgesetzlich so sein, dass Enge, (Schein-)Idylle und Konservatismus mit Heimat und Familie untrennbar verknüpft sind?

Die Idee hinter “Heimat” ist nicht auf ewig unveränderbar.

Begriffe sind, so weiß die Sprachwissenschaft, nicht auf ewig unveränderbar, ebenso wenig die Realitäten, auf die sie sich beziehen. Gerade der Begriff der Familie ist ein Begriff, der sowohl in der Definition als auch in der Lebensrealität heute sehr vielfältig daher kommt. Es ist auch ein Begriff, an dem man gut zeigen kann, dass unterschiedliche Lebensentwürfe keine Erfindung unserer Moderne sind: Tatsächlich ist die Idee der Kleinfamilie eine recht junge Idee, und auch heute finden sich in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Familienmodelle.

Die Beurteilung von Lebensentwürfen hat, wie man am Beispiel der Homosexualität sehen kann, regional und zeitlich schon immer geschwankt. In der Biographie von Rudolf Brazda, einem homosexuellen KZ-Überlebenden, lesen wir, wie er noch in den frühen 1930ern in ostdeutschen Dörfern Partys im Fummel feierte. Nur wenige Jahre später wurden viele Männer dafür verhaftet und umgebracht.

Gibt es Vielfalt nur in der „kosmopolitischen“ Großstadt?

Heimat bietet auch auf dem Dorf nicht nur Einfalt. Es mag ein Merkmal der progressiv Eingestellten sein, dass sie glauben, dass nur eine Wahlheimat eine gute Heimat sein kann. Am besten eine große Stadt, in denen man sich in den üblichen progressiven Milieus bewegen kann. Vielleicht hängt dies auch zusammen mit der Grunderfahrung, die viele von den Progressiven teilen: Aus kleineren Orten, häufig für ein Studium, in eine größere Stadt gezogen zu sein und dies als Befreiung oder zumindest Erweiterung der persönlichen Möglichkeiten erlebt zu haben.

Heimat bietet auch auf dem Dorf nicht nur Einfalt. Wer im Dorf lebt, ist nicht automatisch engstirnig.

Sicher sind Großstädte gute Zentren für progressive Milieus, denn dort kann eine Masse Gleichgesinnter entstehen, in der wir uns schlafwandlerisch sicher bewegen können. Aber sind es die einzigen Orte, an denen wir Offenheit und Vielfalt finden können? Steht das Dorf, das Land, die Kleinstadt nur für Kleinbürgerlichkeit, Missgunst und Einfältigkeit? Hier ein Gegenbeispiel aus der Perspektive queerer Menschen: Bei einer Online-Befragung des Landes Rheinland-Pfalz zu queeren Lebensweisen im Jahr 2013 gab eine ganze Reihe von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen an, sich in ihren kleinen Gemeinden sehr wohl zu fühlen. Eine offene Lebensweise konnten sich auch in den größeren Zentren hingegen nicht alle dort lebenden LSBTI vorstellen.

Fassen wir einmal nicht die Menschen ins Auge, die sich als „anders“ definieren oder empfinden, sondern ihre Mitmenschen, und tun ihnen Gerechtigkeit an: Wer aus einem kleinen Dorf kommt oder in einem lebt, ist nicht automatisch engstirnig. Umgekehrt kann man auch in Berlin in den entsprechenden Kreisen engstirnig aufwachsen oder leben.

Vom Kleinen fürs Große lernen

Man muss also nicht – ganz nach dem neoliberalen Geist! – ein immer mobiler Kosmopolit mit der „richtigen“ Wahlheimat – und diese bitte flexibel! – sein, um Vielfalt zu erleben. Man muss auch nicht 15 Erasmus-Semester aneinander hängen, um Unterschiede zwischen Menschen erfahren zu haben. Man hat sie vor der Haustür, häufig sogar dahinter.

Genau genommen ist es doch so, egal wo ich bin: Kein Freund, kein Nachbar, kein Gast, kein Neuankömmling ist dem anderen gleich. Tagtäglich bringen Menschen zuhause, am Arbeitsplatz, im Verein unterschiedlichste Mitmenschen unter einen Hut. Heimat ist also auch ein Ort der Begegnung. Ich will nicht drumherum reden, dass manche Unterschiede wie etwa die religiöse Grundeinstellung schwerer zu überwindende Unterschiede darstellen können als die Wahl der Lieblingssportart. Dennoch: Wir können aus diesem Kleinen fürs Große lernen, ebenso wie wir aus dem Großen fürs Kleine lernen können. Nur so können wir die ganze Welt zu einem Ort der Begegnung machen.

Beitragsbild: Saarschleife, Wolfgang Staudt @ flickr [CC-BY-NC-ND 2.0]

Korrektur 22.01.2018: Jahreszahl verbessert (1930er statt 1920er)

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