Der Philosoph – Paradebeispiel für einen Nichtsnutz?

Studenten der Altphilologie und Kunstgeschichte teilen ein gemeinsames Schicksal mit mir: sie leiden unter einem Tinnitus, der eigentlich gar keiner ist. Mit einem echten Tinnitus gemeinsam hat dieser Tinnitus, dass er zum ständigen Begleiter geworden ist, sich dabei als äußerst unangenehm erweist und man ihn wohl nur los wird, wenn man lernt wegzuhören. Doch anstatt mich unaufhörlich piepsend um meine innere Ruhe zu bringen, raubt er mir beständig quasselnd den letzten Nerv: „Aber was fängt man denn bitte mit Philosophie nach dem Studium an?“

Bevor ich anfing, ein Orchideenfach zu studieren, war mir nicht klar gewesen, wie tief unsere Gesellschaft, von jung bis alt, in der Mittel-Zweck-Kategorie feststeckt. Seit ich auf jene Frage aber fast täglich anderen und bald minütlich mir selbst antworten soll, sieht das anders aus. Wer es da wagt, pathetisch Sätze wie „Philosophie studiert man um ihrer selbst willen“ oder „Bildung und Studium sind doch Selbstzwecke“ zu verkünden, hat schlechte Karten. Ausführliche Argumentationen gibt der Smalltalk in der Regel jedoch nicht her. Ein kleiner Tipp deshalb, falls Sie gerade ähnliche Erfahrungen machen und um Ihr Seelenheil bangen: Denken Sie sich eine (erlogene) Standardantwort aus, mit der Sie schon kontern können, bevor dem Fragenden überhaupt der ganze Satz über die Lippe gekommen ist, und nehmen Sie Ihrem Gegenüber die Frage nicht allzu übel, es sei denn, Sie finden Gefallen an sukzessiver sozialer Isolierung.

Da ich die nächste Zeit zufälligerweise alleine bin, will ich es an dieser Stelle mit Argumenten versuchen, die im Smalltalk oft nicht zur Sprache kommen – zugegeben, damit verbunden ist die Hoffnung, dass mein Tinnitus über kurz oder lang zum Schweigen gebracht wird. Über dieses Paradies bricht nun die satanische Philosophie herein und zerstört den eitel Sonnenschein.

Spucken oder nicht spucken? Ich könnte zum Beispiel mit Aristoteles behaupten, dass die philosophische Betrachtung (altgr.: theoria) nun mal der Königsweg zur Glückseligkeit sei. Sie erwiese sich somit durchaus als nützlich – für mein Glück. Dieser Gedanke kommt mir jedoch ziemlich eigensinnig vor, bin ich doch kein Aristokrat, der sinnierend nach der Eudämonie trachtet, während die anderen alle für ihren (und meinen) Lebensunterhalt schuften müssen. Die vermeintliche Egozentrik trügt jedoch, wenn man bedenkt, dass eine egoistische Glücksvorstellung, wie sie heute gang und gäbe ist, im Hinblick auf Aristoteles völlig unangemessen wirkt. Als politisches Lebewesen (altgr.: zoon politikon) ist der Mensch immer schon Teil der politischen Gemeinschaft, auch wenn er „hauptberuflich“ der Weisheit frönt. Dass Aristoteles beim glückseligen Philosophen an einen Einzelgänger im Elfenbeinturm dachte, will ich mithin bezweifeln.

Vielmehr dürfte der ideale Philosoph nach Aristoteles neben den Verstandestugenden, zum Beispiel Wissen und Weisheit, auch über Charaktertugenden, zum Beispiel Freigebigkeit, Wahrhaftigkeit und Sanftmut, verfügen und im praktischen Leben der politischen Gemeinde eine tragende Rolle spielen. Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis ist demnach entscheidend, will die Philosophie sich selbst nicht damit bescheiden, dass ihre Vertreter fachintern esoterische Liebesbriefchen austauschen. Es gilt die Weisheit in ihrer Mannigfaltigkeit nach außen zu tragen, damit mehr als 2.000 Jahre des Nachdenkens über den Sinn des Lebens, das gute Leben, das Sein des Seienden etc. nicht in der Fachbibliothek verstauben, sondern jeder in ihren Genuss gelangen kann. Das, was aus dem Wissen entspränge, wäre vermutlich zwar nicht direkt wirtschaftlich verwertbar, sofern man die Erkenntnisse nicht entstellen wollte. Die Philosophie könnte indes helfen, gerade die beschränkte Sichtweise zu durchbrechen wonach der Nutzen einer Sache mit dessen wirtschaftlicher Verwertbarkeit identisch sei. Der Philosoph – Paradebeispiel für einen Nichtsnutz?

 

Diese vorschnelle Gleichsetzung ist nicht verwunderlich, leben wir doch in einem Land, wo der Steigerung des Bruttosozialprodukts eine ganze Hymne gewidmet wurde. Wer nicht in die Hände spuckt, der gilt schnell als Nichtsnutz, ungeachtet dessen, ob er es eigentlich gerne täte oder nicht. Der Philosoph ist mitunter noch schlimmer als der konventionelle Tunichtgut, weil das, was er zu sagen hat, oftmals nicht nur nicht  profitabel ist, sondern der Logik des Profits geradezu widerspricht. Und dafür soll man ihn dann auch noch bezahlen?! Man denke nur an die fröhlich verkündete Nachricht in der Tagesschau, die Kauflust der Deutschen sei in die Höhe geschnellt und deshalb boome die Wirtschaft. Dazu Bilder von einkaufenden Leuten, die über beide Backen strahlen, während sie ihre Einkaufstüten durch die Shoppingmeile schleppen. Einkaufen ist also etwas Gutes, weil es dem Einzelnen Lust bereitet und die Wirtschaft ankurbelt. Kurz: Einkaufen nützt.

 

Was wenn unsere Bedürfnisse garnicht natürlich sind?

Über dieses Paradies bricht nun die satanische Philosophie herein und zerstört den eitel Sonnenschein. Sie erdreistet sich, Fragen zu stellen: Ob Einkaufen überhaupt langfristig glücklich mache oder nur einen kurzen Kick verschaffe. Ob Besitz glücklich mache und ob viel Besitz noch glücklicher mache oder ob Besitz, wenn überhaupt, Mittel zum Glück sei und viel Besitz dem Glück sogar im Weg stehen könne. Ob alle Bedürfnisse „natürlich“ seien oder von der Gesellschaftsform, in der wir leben, präformiert würden, damit das System möglichst reibungslos funktioniere. Ob das, was uns nützlich dünkt, somit wirklich nütze oder im Hinblick auf Menschen aus anderen Ländern oder die Natur sogar eher schade. Ob die Art unseres auf Wachstum fixierten Wirtschaftens langfristig Sinn ergebe…

Wer jedoch in Zeiten der Krise immer noch seinen spießbürgerlichen Träumen nachhängt, der wird womöglich um deren Realisierung willen dazu bereit sein, radikale Wege einzuschlagen – Irrwege, bei denen man sogar noch hinter die Feudalgesellschaft zurückfällt. Emanzipation von unten Zugegeben, der spezielle Beruf, auf den das Philosophiestudium vorbereitet, muss erst noch erfunden werden. Und kaum jemand wird ernsthaft auf die Idee kommen, Philosophie zu studieren, um Karriere zu machen. Dennoch nützt die Philosophie auf ihre Art und Weise. Sie kann allein dadurch, dass sie (ausgiebig) betrieben wird, einen Gedankenwandel im Menschen bewirken – sei es im Gespräch mit anderen oder im Dialog mit dem Philosophen, den man gerade liest. Nun kommt dabei, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt ein endgültiges Ergebnis heraus, sondern es entstehen eine Fülle von Fragen, die erstarrten Denkweisen wieder Beweglichkeit verleihen. Wird diese Öffnung gegenüber alternativen Sichtweisen ernst genommen, kann sich eine Veränderung in der inneren Einstellung zu sich selbst und zur Umwelt ergeben, die einen in Opposition zu landläufigen Vorstellungen bringt.

In Opposition indes befindet man sich nur, solange man es versäumt, andere damit anzustecken, eingefrorene Denkarten ebenfalls aufzubrechen. Hierbei zeigt sich ein emanzipatives Moment der Philosophie, das jedoch auf keine „Top-down-Emanzipation“ abzielt, sondern auf eine „Bottom-up-Emanzipation“. Erstere erinnert an Platons Höhlengleichnis, wonach der Philosoph bei der Ideenschau ewige Wahrheiten erkennt, die ihn zum wissenden Philosophenkönig qualifizieren, dem die unwissende Masse untertan zu sein hat. Die „Bottom-up-Emanzipation“ indessen findet sich bei Hannah Arendt, die nicht von ungefähr Platon gegenüber sehr kritisch eingestellt ist. Als Herzstück ihrer politischen Theorie entwirft sie in dem Buch Vita activa oder vom tätigen Leben den Begriff des „Handelns“. „Handeln“ beinhaltet laut Arendt zwar ein „Führen“ und ein „Folgen“; sie grenzt es jedoch dezidiert von „Herrschen“ und „Beherrscht werden“ ab. Während sie mit diesen beiden Begriffen unter anderem das Verhältnis von Platons Philosophenkönig zu seinen Untergebenen charakterisiert, beschreibt sie mit ersteren Begriffen etwas ganz anderes: Derjenige, der führt, ist niemals dauerhaft auf die Position des Führenden festgelegt und genauso verhält es sich mit denjenigen, die folgen.

Der Führende ist im Gegensatz zum Herrschenden nicht durch ein bloßes Befehlen gekennzeichnet, dem bedingungslos gehorcht werden muss, sondern durch das Vermögen, einen Anfang zu machen. Und jedem Menschen wohnt potenziell ein solches Vermögen inne, sodass jeder Mensch grundsätzlich dazu in der Lage ist, eine Handlung im arendtschen Sinne zu beginnen. Wurde der Stein einmal ins Rollen gebracht, kommen die anderen Menschen dem Führenden zu Hilfe. Sie gehorchen ihm nicht blind, sondern folgen ihm, indem sie als Gleichberechtigte kreativ und denkend an der Handlung partizipieren, und vollenden diese als gemeinsames Projekt. Das Resultat der Handlung ist dabei nicht vorhersehbar, gerade weil es auf dem kreativen Zusammenwirken von vielen beruht. Denken gegen die Gedankenlosigkeit Nun wurde zwar eine Art und Weise charakterisiert, wie emanzipatorisches Handeln vonstatten gehen könnte, das den Einzelnen nicht entmündigte. Die Frage, ob man sich denn überhaupt noch von irgendeinem Zustand emanzipieren müsse, blieb bislang indes unbeantwortet. Kaum ein Mensch der „aufgeklärten Welt“ wird heute noch Zweifel daran hegen, dass es richtig war, sowohl die Sklavenhaltergesellschaft als auch die Feudalgesellschaft zu überwinden. Die bürgerliche Gesellschaft lädt hingegen
viele dazu ein, es sich in ihr bequem zu machen

Die Chancengleichheit ist eine Farce

Dabei unterliegt man einer doppelten Naivität: Zum einen klaffen in unserer Gesellschaft das, was sie zu sein beansprucht, und das, was sie ist, auseinander. Die raue Wirklichkeit straft das Ideal einer humanen und gerechten Gesellschaft oftmals Lügen. Wie der Kultursoziologe Pierre Bourdieu aufgezeigt hat, wird zum Beispiel Chancengleichheit dann zur Farce, wenn ich aus einem sozialen Milieu stamme, wo mir Werte, Normen und Verhaltensweisen vermittelt worden sind, die in den Bildungsinstitutionen und am Markt überhaupt nicht gefragt sind. Beherrsche ich beispielsweise den schwäbischen Dialekt besser als jeder andere Schwabe, so wird mir vorgehalten, ich beherrschte kein Hochdeutsch, anstatt dass ich für mein grandioses Schwäbisch gesellschaftlich anerkannt würde. Um mir das Hochdeutsch anzueignen, muss ich nicht nur viel Zeit aufwenden, ich erfahre auch einen Teil meiner sprachlichen und kulturellen Identität als defizitär, wiewohl ich für den Ort meiner Herkunft rein gar nichts kann. Ich bin mithin das Opfer meines eigenen Habitus, während ein Hannoveraner sich diesbezüglich seines Habitus erfreuen darf.

Oder man denke an die fortschreitende Globalisierung, die zu einer wirtschaftlichen Verflechtung der gesamten Welt führt. Wenngleich die Arbeitsbedingungen in Deutschland noch einigermaßen gut sein mögen, kann ich im Grunde davon ausgehen, dass die meisten erschwinglichen Produkte, die ich mir im Laden kaufe, nicht unter derart guten Bedingungen hergestellt wurden. Hinzu kommt: Je ärmer ich bin, desto eher bin ich dazu gezwungen, zum billigsten Produkt zu greifen. Zu meiner finanziellen Not gesellt sich also der Sachzwang, moralisch bedenkliche Einkäufe zu tätigen, während sich besser Begüterte schlichtweg von ihrer moralischen Schuld „freikaufen“ können. Wer hierbei wirklich unmoralisch handelt und inwieweit unsere Gesellschaft als Ganzes in ein internationales System der Ungerechtigkeit verstrickt ist, müsste eigens geklärt werden. Es geht mir an dieser Stelle vor allem um die psychische Belastung, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen geltenden Moralvorstellungen und beeinträchtigter Entscheidungsfreiheit beim Einkaufen ergibt und die zur Tatsache der ohnehin belastenden Armut hinzutritt. Zum anderen ist die bürgerliche Gesellschaft offensichtlich nicht gegen Krisen gefeit. Nicht mehr nur im eher freigeistigen Feuilleton, sondern auch im Wirtschaftsressort namhafter Zeitungen ird über das Ende des Heil versprechenden Wachstums gesprochen.

In der Krise profitieren diejenigen, die am reflektiertesten denken und leben

In Europa hat sich die Krise dauerhaft eingerichtet und auch in den Schwellenländern kriselt es. Eine globale Rezession kann jederzeit einsetzen – mit unabsehbaren Folgen. Wenn ich in einer Wohlstandsgesellschaft unreflektiert vor mich hin lebe, als ob ich davon ausgehen könnte, dass es auf ewig so angenehm sein werde, ignoriere ich schlichtweg die bisherige Geschichte des Menschen, in der zwar keine Krise endlos anhielt, aber auch kein Gedeihen für immer weilte. Gegen eine durch Wohlstand bedingte Gedankenlosigkeit ist die Philosophie allemal ein gutes Gegenmittel. Denn in ihr haben stets auch krisenhafte Erfahrungen einen Ausdruck gefunden: sei es die Krise der attischen Demokratie in der Philosophie Platons, dessen Lehrer Sokrates dem Willen des Volkes zum Opfer fiel, sei es die Krise der Religion und der Feudalgesellschaft in der Philosophie der Aufklärung oder sei es der Zweite Weltkrieg in den Gedankenwelten von Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Wenn die Krisenhaftigkeit sich tatsächlich als Teil unserer Art zu leben und zu wirtschaften erweisen sollte, werden in Zeiten der Krise immer diejenigen im Vorteil sein, die ihre Vorstellungen vom glücklichen Leben, mithin große Teile ihrer Bedürfnisstruktur, nicht völlig an das Vorfindliche angepasst haben, sondern ihre Lebensweise immer als eine Möglichkeit von vielen erleben.

Einen Möglichkeitssinn zu entwickeln und zu verfeinern, dazu ist die Philosophie imstande. Ob wir der Möglichkeiten gewahr werden und sie auch verwirklichen, das hängt wiederum von uns ab. Wer jedoch in Zeiten der Krise immer noch seinen spießbürgerlichen Träumen nachhängt, der wird womöglich um deren Realisierung willen dazu bereit sein, radikale Wege einzuschlagen – Irrwege, bei denen man sogar noch hinter die Feudalgesellschaft zurückfällt. Wohin mich mein Weg führt, weiß ich immer noch nicht. Indem ich diesen Essay geschrieben habe, habe ich zwar etwas mit meinem Philosophiestudium „angefangen“; aber ob das die Antwort war, die mein quasselnder Tinnitus hören wollte, da bin ich mir nicht so sicher.

Dieser Beitrag von Lukas Wetzel entstand in einem Essaywettbewerb anlässlich der Bayreuther Dialoge für das philosophische Wirtschaftsmagazin agora42. Die Bayreuther Dialoge sind eine Veranstaltung, die jährlich von Studierenden des Programms „Philosophy & Economics“ der Universität Bayreuth organisiert werden. Dort werden Themen an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie zu diskutiert. In diesem Jahr dreht sich bei den Bayreuther Dialogen alles um das Thema „Nützlicher Mensch – menschlicher Nutzen“. Wir freuen uns als transform Magazin Medienpartner der diesjährigen Bayreuther Dialoge zu sein.

Lukas studiert Philosophie und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen.

 

Bild: “Diogenes sitting in his tub.” unter CC Lizenz – “Jean-Léon Gérôme – Diogenes – Walters 37131” by Jean-Léon Gérôme – Walters Art Museum: Home page  Info about artwork. Licensed under Public Domain via Commons – (link)

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