Leicht ist es, die umethische Lebensweise von anderen anzuprangern. Selbstkritik fällt uns hingegen viel schwerer. Dabei sollten wir uns erst einmal selbst ändern.
Es ist eine dunkle Welt voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Eine Welt, in der ein totaler Staat alles kontrolliert. Die Medien. Das Leben. Bis die Lichter des explodierenden Parlaments den Nachthimmel zieren, und tausende, hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen sich auf den Straßen zusammenfinden: eine riesige Guy-Fawkers-Armee.
Für manch einen könnte das ein überzogener Wunschtraum bezogen auf die Gegenwart sein. Tatsächlich ist dies die Schlussszene der Dystopie „V für Vendetta“. Der Philosoph und Zeitkritiker Slavoj Žižek steht dieser Auflösung jedoch skeptisch gegenüber, interessiert ihn doch vielmehr, was danach geschieht. Deshalb wünscht er sich einen zweiten Teil, in dem zu sehen ist, wie die Guy Fawkers einen neuen, besseren Staat (oder dergleichen) errichten. Abreißen scheint eben ein Leichtes, wiederaufbauen nicht.
Was wohl vor den Fawkers passierte
Žižek hat allen Grund dazu, Aufmerksamkeit auf das Danach zu richten, auf die Utopie- und Alternativlosigkeit derjenigen, die das heutige System zurecht anprangern. Und doch, so meine ich, wäre anstatt dem zweiten ein ganz anderer Teil von viel wichtigerer Bedeutung. Nämlich der Vorläufer des ersten Teils.
Er würde zeigen, wie sich die Menschen hinter den Masken zuerst selbst verändern, bevor sie das Parlament in die Luft jagen. Denn die Voraussetzung für die Fawkers, es später selbst besser zu machen, ist, dass sie zuerst einmal selbst besser sind. Der Leviathan besteht ja, zumindest nach dem Hobbes’schen Bilde, aus den einzelnen Individuen.
Große Denker sagen: Wir müssen die Herrschaft über uns selbst erlangen
Bereits in Platons Dialog »Großen Alkibiades« weißt Sokrates Alkibiades daraufhin, wie eng Politik, Ethik und die Sorge um sich, epimeleia heautou, verquickt sind. Alkibiades gelangt daraufhin zu der Einsicht, erst sich selbst zu erkennen und zu entfalten, bevor er am politischen Leben teilnimmt.
Eine ähnliche Erkenntnis erlangt auch Mahatma Gandhi. Um Indien von der britischen Okkupation zu lösen, verfolgt Gandhi die Idee des swarāj, was am ehesten dem deutschen Begriff der Selbstherrschaft oder –bestimmung nahekommt (swa = Selbst; rājya = Herrschaft).
swarāj kann dabei als Herrschaft durch das Selbst und als Herrschaft über das Selbst verstanden werden. Dementsprechend besteht für Gandhi swarāj einerseits aus der Unabhängigkeit Indiens durch die Inder. Anderseits muss dazu jeder einzelne erst einmal über sein eignes Selbst herrschen.
Wir waren schon immer laut, handelte es sich um das Missverhalten der anderen, äußerst leise hingegen, wenn nicht schweigsam, ging es um den Mist vor unserer eigenen Villa.
Gandhi war davon überzeugt, wenn jeder den inneren swarāj durch spirituelle und ethische Veränderung erlange, würde auch der äußere swarāj, also Indiens Unabhängigkeit, eintreten. In diesem Sinne schreibt er: „Die Herrschaft über den eigenen Geist ist der wirkliche Swaraj.“
Wann hast du dich das letzte Mal ethisch verhalten?
Leider wurde der Begriff der Spiritualität in der Vergangenheit sehr in Mitleidenschaft gezogen. Es sei an dieser Stelle lediglich erwähnt, dass die geistigen Übungen, die man bei Platon, später in der hellenistischen Zeit und bis in das Mittelalter praktizierte, allesamt dazu dienten, den Geist, das Selbst, ja, das ganze Wesen eines Menschen zu verändern.
Aber sehen wir es der Einfachheit halber allein von der ethischen Seite (die damals mit der spirituellen verbunden war): Wann haben wir uns das letzte Mal ethisch verhalten? Uns ethisch weiterentwickelt? Wann haben wir uns beispielsweise dazu entschlossen, weniger oder besseres Fleisch zu konsumieren, weil wir um das unethische Verhalten gegenüber den Tieren und die desaströsen Auswirkungen auf die Natur wissen?
Wann haben wir entschieden, weniger zu fliegen, weil wir von dort oben förmlich sehen können, wie die Gletscher schmelzen? Wann haben wir eingesehen, dass SUVs und das Rasen mit Autos unnötige Abgase produzieren? Wann haben wir erkannt, dass wir unser moralisches Verhalten nicht nur auf unsere Nachbarn, unsere Landsleute, sondern alle Menschen beziehen sollten? Dass wir mehr als diese lächerlichen 21 Euro, wenn überhaupt, jeden Monat spenden müssten?
Selbstoptimierung: Yoga in der Mittagspause
Wir waren schon immer laut, handelte es sich um das Missverhalten der anderen, äußerst leise hingegen, wenn nicht schweigsam, ging es um den Mist vor unserer eigenen Villa. Das Problem ist, dass man nicht einfach als Homo ethicus geboren wird. Es braucht andauernde Auseinandersetzung mit sich selbst, Kultivierung, eben: Übung.
Allerdings sehen wir uns zum einen mit dem Problematik konfrontiert, dass die meisten Menschen davon ausgehen, sie seien die Speerspitz der menschlichen Evolution und damit nahezu unfehlbar. Veränderungen bewirkt man nunmehr außen, nicht mehr innen. Wenn schon geistliche Übungen vollzogen werden – zumeist als verfälschter Import aus dem Orient, zum Beispiel Mittagspausen-Yoga – dann nicht um der Selbstkultivierung, sondern der Selbstoptimierung willen.
Gut und Böse gab es noch nie – und sie verschwimmen immer mehr
Zum anderen macht es die heutige Welt oft äußerst schwer, die einmal kultivierte Moral richtig durchzusetzen. Um es an einem Beispiel zu untermalen: Die Booker Prize Gewinnerin und linksorientierte Aktivistin Arundhati Roy kritisierte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung mit üblicher Verve den Kapitalismus und seine Abgötter. Im Zuge dessen fragte der Journalist, warum sie dann ein iPhone bei sich trage.
Die einfachen Grenzen zwischen Guten und Böse, die es ohnehin nie gab, verschwimmen in unserer Zeit zunehmend. In der Postmoderne, der Post-postmoderne oder Hypermoderne, oder wo auch immer wir uns gerade befinden, sind wir alle selbst, um mit Hegel zu sprechen, Meister und Knecht.
Es erscheint unheimlich schwer, eine authentische Außenposition einzunehmen, von der aus wir nicht-heuchlerische Kritik äußern könnten. Was bleibt ist die Ironie. Doch sollte gerade das umso mehr Grund sein, sich selbst zu kultivieren und die eigenen Dämonen zu bändigen.
Du willst etwas ändern? Dann fang damit an!
Sicher ist es nicht abzuleugnen, dass zwischen Individuum und Staat meist ein wechselseitiges Verhältnis herrscht. Verändern wir uns alle selbst, verändert sich auch die Politik, wenn auch oft erst nach schmerzlichen Widerstand und (zu) langer Zeit. Aber auch der Staat kann den Anstoß zur Veränderung seiner Bürger geben, im Negativen wie Positiven.
Die Politik macht das aber viel zu selten, weil Entscheidungen gegen den Willen seiner Wähler in erster Linie Stimmverlust bedeutet. Folgt die Einsicht schließlich, dass die Entscheidung doch zum Wohl aller war, ist die Legislaturperiode normalerweise schon lange passé. Wegen diesem Problem gibt es bereits seit längerem die Überlegung, Langzeitentscheidungen in einem Punktesystem den Parteien auch später noch positiv oder negativ anzurechnen – was seine ganz eigenen Schwierigkeiten birgt.
Aus diesem Grund ist die eigene Veränderung umso wichtiger. Wir können uns nicht auf eine Politik verlassen, die in ihrem eigenen System gefangen ist. Außerdem sind wir vor allem für uns selbst verantwortlich. Ich würde nicht so weit gehen wie Gandhi und behaupten, haben wir uns alle genug kultiviert, würde sich eine bessere Gesellschaft augenblicklich einstellen. Aber ich wagen zu sagen, dass es keine Alternative gibt.
Die Fortsetzung von „V für Vendetta“ würde kein Happy End haben
Solange die Protestierenden auf dem G20 Gipfel sich in ihrer Essenz nicht von denen unterscheiden, gegen die sie aufbegehren – weil sie beispielsweise bereits sind, die gleiche sinnlose Gewalt anzuwenden –, können wir davon ausgehen, dass es den Vorläufer unseres „V für Vendetta“ niemals gab.
Und solange vom System benachteiligte Menschen, wie in den England Riots von 2011, Geschäfte der ebenso benachteiligten niederbrennen und mit gestohlenen Nike-Schuhen fliehen, wird die Fortsetzung kein Happy End haben. Dann gibt es kein „V für Vendetta“, sondern nur „Animal Farm“.
Der Protagonist in„ V für Vendetta“ bleibt in einer der letzten Kampfszene trotz Kugelhagel unversehrt. Daraufhin erklingt es unter seiner Maske: „Ideen sind kugelsicher“. Wenn dem wirklich so ist, dann lasst uns hoffen, dass wir die richtigen Ideen kultivieren. Ideen, die wir zuerst einmal in uns selbst wachsen lassen müssen.
Krisha Kops, deutsch-indischer Abstammung, studierte Philosophie und Internationalen Journalismus an der London und Westminster University. Er promoviert derzeit in interkultureller Philosophie und ist in Deutschland sowie Indien als freiberuflicher Journalist für Medien wie Times of India, Hohe Luft, Deutsche Welle und das SZ-Magazin tätig.
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