Warum wir neue Schulen brauchen

Warum wir neue Schulen brauchen

Es geht um das System Schule.
Wir müssen dringend miteinander reden. Bitte nehmen Sie sich etwas Zeit. Es geht um das System Schule. Das ist ein sehr ernstes Thema. Bleiben wir also beim „Sie“. Das Warum erfahren Sie gleich. Vielleicht biete ich Ihnen später das „Du“ an. Vorher werfe ich Ihnen eine Banalität hin: Die Grundschüler von heute stehen im globalen Wettbewerb um die Arbeitsplätze von morgen. Das bringt der Fortschritt mit seiner weltweiten Vernetzung mit sich und ist keine Überraschung. Traurig allein ist das Resultat. Ein Großteil von diesen Kindern wird sich auf dem Weg in die neue Arbeitswelt unglaublich anstrengen, um schließlich erbärmlich zu scheitern. Und wir … Sie und ich sind daran schuld!

Das Gebräu aus Fleiß, Ordnung und Gehorsam

Schauen Sie nicht so verdattert. Sie wissen es. Ich weiß es. Jeder Lehrer weiß es. Und jeder Schüler, der sich morgens aus dem Bett quält, um sich in einer staatlichen Bildungseinrichtung seine Ration Wissen abzuholen, fühlt es. Schule ist eine Maschine, die wenig mit Bildung zu tun hat und erst recht nichts mit der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts.

Das System ist 100 Jahre alt.
Wie sollte es auch anders sein. Das System ist 100 Jahre alt und mixt unverändert die preußischen Tugenden Fleiß, Ordnung und Gehorsam in den pädagogischen Cocktail. Dazu ein ordentlicher Schuss Leistungsdruck, ein gehäufter Löffel Kontrolle und die Angst vor der Fünf als Crushed-Ice. Würden Sie das Gebräu freiwillig noch einmal trinken oder darf ich Ihnen etwas Anständiges anbieten? Was ich empfehle? Potentialentfaltung durch Kooperation, Anerkennung und Wertschätzung.
Der individualisierte Konkurrenzkampf, der sich wie ein roter Faden durch die Schulzeit und das Leben zieht, ist eine heilige Kuh des Bildungs- und Wirtschaftssystems der Industriestaaten. Dieses Rindvieh, was Sie und ich durch immer bessere Leistungen gemästet haben, müssen wir schlachten.

Schule ist ungesund

In Deutschland sind bei etwa 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Verlauf der Schulkarriere psychosomatische Störungen, Formen der Depression oder Angst- und Schlafstörungen zu beobachten. Diese Krankheitsbilder mit der Überlastung durch das System Schule zu erklären, wäre zu billig. Da spielen Faktoren wie das soziale Umfeld, die neuen Medien und überhaupt der ganze Lebensstil mit rein. Es sollte uns trotzdem zu denken geben, wenn Kinder- und Jugendärzte davon sprechen, dass Schule krank macht.

Brauchen Sie das? Bedingt.
Das ist Faktenwissen. Brauchen Sie das? Bedingt. Es schadet nicht, das gelesen zu haben. Spätestens am Ende des Artikels werden Sie sich ohnehin an viele Details nicht mehr erinnern. Warum? Das ist zu viel Stoff auf einmal und bildet den Lernalltag gut ab.
Richard David Precht, ein Bildungskritiker, hat einmal behauptet, ein Kind würde bis zum Abitur 100.000 Stunden Schule erleben. Diese  maßlose Übertreibung ist notwendig, um die Unmengen an Wissen zu beschreiben, mit denen sich ein Kind in der Schule konfrontiert sieht. Dabei wird das meiste Gelernte vergessen. Herausgefiltert und im Gedächtnis abgespeichert wird nur das, was in Zukunft von Bedeutung sein könnte. Aber was ist von Bedeutung? Die nächste Geschichtsklausur?

Emotionen und das einzigartige Wir

Informationen speichern wir immer am besten, wenn Sie uns emotional berühren. Hat Sie Mathematik berührt? Den Deutsch-Unterricht haben Sie in den Sommerferien bestimmt vermisst, oder? Aber Sie erinnern Sie sich an Ihr Lieblingsfach.
Emotionen sind ein wichtiger Indikator, ob Ereignisse langfristig speichernswert sind oder nicht. Der Psychologe Hans Markowitsch hat einen griffigen Satz formuliert, der dazu passt: „Ohne Gefühle gibt es keine Erinnerung.“ Und an Erlebnisse, die positiv verknüpft sind, erinnert man sich besonders gerne.
Dazu kommt eine interessante Erkenntnis. Sie wissen bestimmt, dass der Mensch von Natur aus ein kooperatives Wesen ist. Kooperation und Anerkennung motiviert uns. Wir strengen uns dann ganz besonders an und helfen uns gegenseitig, um es gemeinsam zu schaffen. Die Bereitschaft zur Kooperation kann man bereits bei Kleinkindern erkennen. Wenn wir mit anderen ein Problem lösen und Erfolg haben, macht uns das richtig happy. Dann werden Glückshormone ausgeschüttet. Das kennen Sie vielleicht vom Fußball, wenn Sie mit Ihrer Mannschaft ein schweres Spiel gewonnen haben. „Wir haben es geschafft!“ Dieses Wir ist einzigartig.
Haben sich Ihre gemeinsamen Erfolge in Englisch, Deutsch, Mathematik, Chemie, Physik, Latein oder Kunst ins Gedächtnis eingebrannt? Natürlich nicht. Es gab ja kaum welche.

Der Kampf um die Karriere

Auf der Schulbank beginnt der Kampf um die lukrativen Arbeitsplätze und die Karriere. Dafür muss ein guter Abschluss her. Wenn es sein muss, mit der Brechstange. Der Abschluss zählt in Deutschland ohnehin mehr, als ihre Fähigkeiten und Talente.
Ohne Schulabschluss oder lediglich mit einem Hauptschulabschluss, stehen die Chancen auf eine Lehrstelle nicht besonders gut. Ein Realschulabschluss kann für eine Ausbildung als Bürokaufmann, Goldschmied oder Uhrmacher reichen. Das sind ehrbare Berufe, deren Existenz in der Zukunft ungewiss ist. Durch die Verschmelzung der industriellen Produktion mit der Informations- und Kommunikationstechnik zur Industrie 4.0 werden einige Berufsbilder langsam verschwinden. Niemand kann vorhersagen, welche Wissensbereiche in der Zukunft wirklich relevant sein werden. Vielleicht sind die Perspektiven für Bauingenieure, Softwareentwickler oder Wirtschaftsmathematiker rosiger. Dafür muss das Abitur her.

Mit der Peitsche zum Akademiker

Eine Fünf in Mathe stellt die Existenzfrage.
Papa und Mama wollen selbstverständlich, dass ihre Kinder eine berufliche Perspektive haben und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Entsprechend motiviert schicken sie ihre Kids in den globalen Wettbewerb. Sie sind auf dem Weg zum Abi angetan von einer Eins. Manche loben Prämien dafür aus: Geld, Spielzeug, coole Klamotten und noch coolere Handys für das Ich. Die Zwei ist eine Note, die man noch gerne erwähnt. Eine eklige Drei hinterlässt bereits den schalen Geschmack von Mittelmäßigkeit. Der Nachwuchs scheint durch die erste Vier in Physik ernsthaft bedroht. Eine Fünf in Mathe stellt die Existenzfrage: Was soll aus dem Kind werden? Folglich wird das Ich im Akademisierungswahn mit der mehrschwänzigen Lernpeitsche angetrieben.
Üben. Pauken. Durchbeißen. Und noch viel mehr auswendig lernen. Vielleicht bringt Nachhilfe die Rettung vor dem Fegefeuer. Irgendwo hat man schließlich aufgeschnappt: „Viel hilft viel.“ Die Überdosis an schulischer Bildung ist sowieso beschlossene Sache.
Das Hardcore-Programm aus Anspruchsdenken und schulischer Anforderung halten nicht alle durch. Es ist auch ein Vorgeschmack auf die Welt der Arbeit. Dort, wo zäh um Zeitverträge, halbe Stellen und Positionen gerungen wird. Und dann steht in fast jeder Stellenausschreibung irgendetwas von Teamfähigkeit. Sind Sie teamfähig?

Die Revolution beginnt jetzt

Jeremy Rifkin, ein Soziologe und Ökonom, hat vor über zehn Jahren darauf hingewiesen, dass durch die digitale Revolution langfristig die Arbeit verschwinden wird, da sogar die billigste menschliche Arbeitskraft immer noch teurer sei als die einer Maschine. Ich finde das gut. Roboter können die körperlich schweren Arbeiten erledigen, während sich die Menschen wieder dem Denken zuwenden.

Wir brauchen eine innere Revolution.
Dafür brauchen wir eine innere Revolution, die uns in eine Kultur der Begegnung und in eine Gesellschaft der Potentialentfaltung führt. Das Ich überwinden, zum Wir zurückkehren und sich den Herausforderungen stellen als eine Gemeinschaft, in der nicht versucht wird, einen anderen auf Teufel komm raus zu übertrumpfen, sondern ihn zu ermutigen und zu bestärken, seine Begabungen zu entfalten. Aber nicht aus marktwirtschaftlichen oder sonstigen ökonomischen Überlegungen.
Wir brauchen jedes Talent, um den gesellschaftlichen Niedergang zu verhindern, der sich nicht nur durch Konflikte, Umweltzerstörung und soziale Verwerfungen abzeichnet. Sondern auch durch eine zunehmende Gleichgültig und Empathielosigkeit gegenüber dem Schicksal von Mensch und Tier. Das wissen Sie. Das muss ich nicht ausführen.
Damit sich aus dem individuellen Potential Fähigkeiten entwickeln, die für alle gut sein können, gehören sie wie die Farben eines Malers auf eine Leinwand. Die Leinwand, das ist eine Gemeinschaft, in der man Sicherheit, Inspiration und Anerkennung findet. Das kann die Schule sein, der Arbeitsplatz oder die Straße. Hauptsache es sind Menschen beteiligt, die dieser Idee folgen wollen.

Begleitendes Mentoring

Kooperation, der Austausch von Erfahrungen und der Wissenstransfer zwischen den Mitgliedern der Gruppe sind die Motivation, um das Potential von allen auszuschöpfen.
Dafür bedarf es einer Kommunikation, die auf Augenhöhe stattfindet. Benotungen, Erwartungshaltungen oder Idealvorstellungen, die mit aller Gewalt erfüllt werden müssen, braucht niemand. Da entwickelt sich weder Begeisterung noch ein echtes Wir-Gefühl.

Kein gut oder schlecht, sondern gemeinsamer Fortschritt.
Begleitendes Mentoring und Beobachtung der theoretischen und praktischen Fähigkeiten und Begabungen bei gleichzeitiger Selbstbewertung von Stärken und Entwicklungsfeldern ist ein Gegenmodell. Da gibt es kein gut oder schlecht, sondern einen gemeinsamen Fortschritt. Der lässt sich in kleinen Einheiten unproblematischer ansteuern, als in großen Gruppen, wo der Schwächste sofort abgehängt wird.
Verbunden durch das Wir machen sich alle auf den Weg zur Spitze des Berges. Die Notwendigkeit der Bemühungen wird akzeptier und als Selbstverpflichtung angenommen. Jeder trägt damit freiwillig Verantwortung, um Teil von etwas Großartigem sein wird. Das bringt Höchstleistungen hervor. Es ist wie das perfekte Zusammenspiel eines Orchesters.

Jeder hat ein Talent

Fangen Sie an eine Gemeinschaft aufzubauen, die den Gedanken der Potentialentfaltung in den Mittelpunkt stellt. Werden Sie ein Mentor, der andere ermutigt. Werden Sie ein Potentialentfalter. Bringen Sie ihr Wissen und ihr Können in die Gruppe ein, die sich für ein spezielles Thema interessiert bei dem der Mensch Mittelpunkt ist, und Sie werden sehen, welche Power sich daraus entwickeln kann. Gründen Sie einen Verein, starten Sie ein Projekt oder bauen Sie eine Genossenschaft auf, die sich dem Gemeinwohl verschreibt und in der jeder eine hohe Wertschätzung erfährt.
Wo Sie Leute finden, die genau das wollen? Sie kennen bestimmt jemanden. Fragen Sie direkt. Suchen Sie im Netz. Sie finden Projekte, Organisationen und Menschen, die die Potentialentfaltung als Ziel haben.
Ach … Die Zeit ist fortgeschritten. Es ist nicht alles ausgesprochen, aber das wesentliche schon. Geben Sie mir noch einen Augenblick für ein Zitat von Prentice Mulford.

“Jeder Mensch hat latent in sich eine Fähigkeit, ein Talent, ein nuanciertes Vermögen, das einzig ist wie sein Dasein.”

PS: Ich biete Ihnen gerne das Du an.

 

gunther-sosnaAutor Gunther warf sich mit Begeisterung in die New Economy, brannte für den Journalismus und rotierte in Werbung und PR. Nach erfolgreicher Entschleunigung tritt er für eine Gesellschaft der Potentialentfaltung ein.

 

Beitragsbild: Baim Hanif, unsplash.com

  1. Ihr Lieben
    Bin 1937 in Breslau geboren. Begann meine Schulzeit noch dort. Mußte bald ausweichen da in Breslau wegen Festung-Status die SchuleNachricht geschlossen wurden. Habe dann auf dem sehr ” flachen ” Land in der Mark Brandenburg meine Schule weiter besucht. Sonst hätte ich in den “Natiomal” geführten Einrichtungen fortsetzen müssen. Nach dem Krieg hab ich nach Umwegen in Erfurt weiter gelernt. Abitur war wegen politischer Konfrontation untersagt. Die Allgemeinbildung damals war, entgegen der politischen diktatorischen, besser als im Westen. Ebenso die berufliche. 3Tage Schule 3Tage Praktisch. Hab später Studium im Westen nachgeholt und dabei teilweise Vorlesungen aushilfsweise geschrieben. Die Diskussion über die Schulreform ist notwendig, aber mehr als überzogen. Nehmt Euch Finnland zum Vorbild und unterlässt die übertriebenen Vorgaben.
    Für eine angemessen gute Zukunft– Euer Martin Ulrich Pfitzke

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