Mural an Hauswand in Berlin; Pavel Nekoranec, CC0 Unsplash

Mein Handy wiegt zwei Kilo

Ausschnitte aus einem Leben ohne Smartphone. Unsere Autorin schreibt, wie sich der Verzicht positiv auf ihr Leben auswirkte.

Tag 0: Die Rache

Zugegeben, ich war nicht immer offline. Und der Zeitpunkt, an dem ich und mein Smartphone getrennte Wege gingen, war eigentlich nicht unbedingt gewollt. Mein iPhone gab nach vier Jahren den Geist auf. Total genervt von meinem Smartphone bin ich so wütend, dass ich mir kein neues kaufe. Einfach aus Trotz. Zeige ich dem Ding doch mal, wer hier ohne wen leben kann.

Tag 1: Wer entscheidet über meine Erreichbarkeit?

In unseren digitalen Utopien sehen die Menschen immer unglaublich entspannt aus. In einem Science Fiction-Film schaut sich ein Paar in einem fliegenden Taxi tiefenentspannt an. Ihr Lächeln blitzt dabei so unnatürlich auf. In der Werbung surft jemand total relaxt mit seinem Handy schwerelos durch eine Unterwasserwelt. Ein Blog berichtet davon, wie man bald ganz easy mit Hologrammen videochatten kann. Vermutlich ist die entspannte Stimmung das Unrealistischste an diesen Bildern.

Zeige ich dem Ding doch mal, wer hier ohne wen leben kann.

Am ersten Tag ohne Smartphone spüre ich eine Entlastung. Klar: Es ist erstmal gewöhnungsbedürftig. Ich merke, wie schwierig es für die Leute ist, mich zu erreichen. Keine Emails, kein WhatsApp, kein Facebook auf dem Handy. Das ärgert manche. Aber mich nicht. Ich weiß, dass mich jeder erreichen kann, wenn es wirklich wichtig ist (was meistens nicht der Fall ist). Und sonst wird jetzt die Erreichbarkeit komplett meine Entscheidung. Obwohl ein Smartphone das Leben erleichtern soll, fühlte ich mich ohne es stressbefreiter. Ich entspanne mich am ersten Tag einfach, indem ich aus dem Fenster sehe und mich mit nichts beschäftige.

Tag 5: Die eigene Stadt entdecken

Was mache ich dann mit der ganzen süßen Unerreichbarkeit? Ich entdecke den Spaß daran, lange Spaziergänge zu machen. Ich laufe seitdem viel mehr als vorher. Statt drei Stationen mit der U-Bahn zu fahren, laufe ich lieber und erkunde die Gegend. Weil ich nicht die Bahnfahrt für irgendein messaging nutzen muss und weil ich natürlich auch viel weniger Ahnung habe, wo genau es langgeht. Ich habe kein Google Maps mehr, das mir den schnellsten Weg zeigt. Was mir aber die Spaziergänge zeigen, ist viel wichtiger als die eingesparte Zeit. Kürzlich flanierte ich halb verirrt durch den Treptower Park in Berlin und entdeckte das beeindruckende Sowjetische Ehrenmal. Mit dem Smartphone wäre ich daran vorbeigehetzt.

Sowjetisches Kriegsdenkmal in Berlin; Michael Brooks Jr., CC0, unsplash
Ist riesig, aber kann man schnell mal vorbeifahren und erst nach Jahren in Berlin entdecken: Das sowjetische Ehrendenkmal in Berlin-Treptow. Bild: Michael Brooks Jr., CC0, unsplash

Tag 8: Zeit breitet sich aus und ich werde smarter

Ich male mir am achten Tag zum ersten Mal auf kleinen Zetteln den Weg zu einem mir unbekannten Ort. Ich schreibe kleine Notizen, wie »1. Links, 2. Rechts«. Trotzdem verlaufe ich mich ein wenig. Doch schnell finde ich Gefallen daran, mir auch einfach Zeit für meinen Weg zu nehmen.

An Tag 8 bemerke ich gleich zwei Dinge: Statt Smartphone gibt’s jetzt SMarie! Ich merke, wie ich mich nach und nach immer besser orientieren kann, merke mir den Weg, merke dadurch, wie mein Gedächtnis besser wird. Das Wetter ist gut und ich laufe in Berlin vom Frankfurter Tor zum Hermannplatz, das dauert etwas über eine Stunde, aber der Weg ist schön und ich kann das gute Wetter sowie die Zeit einfach genießen.

Ich entspanne dabei, es hat etwas von einer Meditation. Und dann fällt mir noch etwas auf: Wir sprechen immer davon, dass wir wenig Zeit haben und wollen diese deshalb mithilfe von Smartphones optimal nutzen. Aber jetzt merke ich, wie sich nun die Zeit um mich ausbreitet. Ich fühle, wie ich mehr Zeit habe, weil ich ihr mehr Raum gebe.

Mit dem Smartphone war ich gedanklich immer bei anderen. Wo sind meine Freunde? Ist Sophie schon aus dem Urlaub zurück? Kommen wieder nur drei Leute zur Party von Marius? Ich war gedanklich immer woanders. Ohne Smartphone fällt das erstmal weg. Und der Raum wird mit anderen Gedanken gefüllt: Ich beginne, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Meine eigenen Gedanken und Bedürfnisse stehen wieder im Vordergrund.

Tag 16: Wirklich da sein

Nervige WhatsApp-Chats und überhaupt lange Nachrichten schreiben zu müssen, ist jetzt passé. Heißt das absolute Einsamkeit? Nein, denn an Tag 16 bemerke ich, wie sich Freunde an meine Kommunikation anpassen. Sie rufen mich jetzt nicht nur in Notfällen an, sondern auch einfach mal so. Sie sagen dann, es sei »so wie in alten Zeiten«. Kein Drumherum-Gerede. Direkt und ohne Zeitverschwendung.

Statt des Gefühls, nicht mehr mitzukommen, habe ich jetzt das Gefühl eher anzukommen. Ich genieße Momente, muss nicht von allem gleich ein Foto oder einen Post machen ‒ denn wen interessiert das schon? Wenn ich jetzt mit Freunden Zeit verbringe, bin ich auch wirklich bei Ihnen.

Freisprechen kann ich mich nicht davon, außerhalb der digitalen Welt zu leben. Ich nutze meinen Computer jetzt mehr. Schaue immer noch in diverse soziale Portale rein. Ich möchte nicht ganz darauf verzichten. Ich verteufle sie auch nicht. Aber ich möchte in ihr bewusst leben.


Marie Montexier im Redlight Radio Amsterdam

Die Autorin Marie Montexier hat die gesamte fünfte Ausgabe mit uns zusammen gestaltet. Sie hat gelayoutet, gefeiert und geschrieben mit uns. Sie ist DJ in Köln.


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