Luxus für alle! Illustration Richard Klippfeld für transform

Luxus ist nicht notwendig, aber wir haben ihn nötig

Ist Luxus ungerecht? Er geht über das Notwendige hinaus. Kann das nur bedeuten, dass er den Privilegierten vorbehalten bleibt? Nein, an Luxus ist nichts notwendig — aber wir haben ihn ungeheuer nötig. Wir dürfen bloß nicht weiterhin denken, er würde uns nicht zustehen.

Wenn Menschen mehr sind als Maschinen, die bloß funktionieren sollen, brauchen sie etwas, das sich ohne Zweck genießen lässt. Etwas, das man tut, weil man Freude daran hat, weil die Tätigkeit — oder Untätigkeit! — selbst schön ist und nicht, um etwas damit zu erreichen. Das kann man Kunst oder Freiheit nennen, freies Spiel der Fantasie oder Spielraum für Entwicklung. Wenn wir es aber Luxus nennen, deuten wir damit an, dass wir es gar nicht nötig haben.

Doch wenn Menschen mehr sind als Maschinen, brauchen sie einen gewissen Überfluss, sogar Überdruss, etwas, das sie über die engen Kreise des bloßen Funktionierens hinaus bringt. Sie brauchen freie Zeit und Langeweile, sie brauchen Raum, um sich zu bewegen und zu entwickeln. Viele Menschen antworten heute auf die Frage, was Luxus für sie sei: mehr Zeit, um mal in Ruhe zu lesen. Zeit mit Freunden. Gutes Essen, Nachdenken, freie Zeit, Freiheit. Wenn das schon Luxus ist, dann haben wir ein Problem mit unserer Vorstellung vom Menschen. Wir leben zu kümmerlich in dem, was wir anderen zu gönnen bereit sind, weil wir zu kümmerlich umgehen mit uns selbst.

Überhaupt irgendeinen Luxus genießen zu dürfen, ist ein Privileg, das sich nicht jeder leisten kann und darf.

Im globalen industriellen Kapitalismus wird Freiheit und Unabhängigkeit selbst zum Luxus: Nicht vollständig aufzugehen im engen Kreis des notwendigen Funktionierens, sondern darüber hinaus etwas zu haben und genießen zu können, was nicht der bloßen Notwendigkeit dient. Manche denken sich ihren Luxus materiell, golden und glänzend, ein Zeichen des Reichtums, ein deutliches Symbol dafür, dass sie nicht länger auf Arbeit angewiesen sind.

Andere sprechen von Luxus als Zeit für sich und andere, Muße und Ruhe, was ebenfalls ein Symbol für Unabhängigkeit ist. In jedem Fall ist Luxus ein Extra. Egal ob Benz oder Goldkette, Kunst sammeln oder Philosophie studieren, reisen gehen oder in der Sonne liegen: Überhaupt irgendeinen Luxus genießen zu dürfen, ist ein Privileg, das sich nicht jeder leisten kann und darf. Weltweit verbrauchen fünf Prozent der Menschen 25 Prozent aller Ressourcen. Die Global Rich List ist ein Online-Datentool von CARE International.

Wer hier das Einkommen einer Person eingibt, die zum Bezug der Grundsicherung von ALG II in Deutschland berechtigt ist, der stellt fest: Das Einkommen dieser Person befindet sich immer noch unter denen der reichsten neun Prozent der Welt. Diese Person kann allerdings im üblichen Lauf der Dinge weder reisen noch studieren und auch das Liegen in der Sonne ist wenig komfortabel, wenn dir das Amt im Nacken sitzt. Man könnte meinen, sogenannte Erwerbslose hätten immerhin den »Luxus«, mehr Zeit zu haben, doch das stimmt meist nicht. Sie müssen ständig auf der Hut sein, in ständiger Verteidigungsstellung, auf Abruf. Ihre Verpflichtung ist so konsequent wie ein Arbeitsvertrag — nur ohne die Anerkennung.

Hätten alle Menschen überall auf der Welt so viele Autos wie etwa die Menschen in den USA, wären das fünf Milliarden Autos.

Wer ist schuld?

Als Gesellschaft müssen wir notwendigerweise verdrängen, dass unser Wohlstand auf den Ressourcen der ganzen Welt beruht. Eigentlich sind wir alle voneinander abhängig. Doch wir leben so, als seien wir unabhängig und könnten Ressourcen konsumieren, die niemals enden. Wenn das allen zustünde, wäre es nicht möglich, denn 20 Prozent der Menschheit verbraucht heute 80 Prozent der Energie. In die Herstellung eines einzelnen Autos sind insgesamt etwa 400.000 Liter virtuelles Wasser geflossen, wie es der britische Forscher John Anthony Allan nennt. Hätten alle Menschen überall auf der Welt so viele Autos wie etwa die Menschen in den USA, wären das fünf Milliarden Autos.

Solche Zahlen machen klar: Die Art, wie die Bürger des Globalen Nordens ihr Leben führen, kann nicht die Lebensweise für alle Menschen auf der Welt sein. Zugleich wollen diese Bürger aber weiterhin behaupten, alle Menschen seien »frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Nun kann man sagen: Ja, aber frei und gleich an Würde und Rechten heißt nicht Luxus für alle. Viele bemühen sich ja schon, nicht mehr so viele Avocados zu essen und den Kaffee nicht mehr aus Wegwerfbechern zu konsumieren. Die Herstellung von Autos verbieten oder den Handel mit Kinderarbeit, das können die Einzelnen nicht, selbst wenn sie entschlossen wären, das zu fordern. Sollen sie sich einfach schuldig fühlen, hilft das irgendjemandem weiter?

Und wenn sie zu dem berechtigten Schluss kommen, dass es niemandem weiterhilft, müssen sie verdrängen: die Tatsache, dass ihr luxuriöses Leben, ihr Kaffee, ihre Autos und ihre supergünstigen T-Shirts auf einer ausbeuterischen globalen Realität beruhen und dass sie als Einzelne gar nicht die Macht haben, daran etwas zu ändern.

Allerdings gehört es zum liberalen Selbstverständnis, dass Menschen Individuen sind, die frei handeln können und für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden. Darum wird es als Vorwurf empfunden, nichts tun zu können. Viele Menschen leiden an dieser Machtlosigkeit. Sie sind die Konsument*innen-Schicht, an die sich Firmen mit dem sogenannten »Greenwashing« wenden, um ihnen Produkte zu verkaufen, die suggerieren: Wir sind fair und öko, wir machen uns nicht schuldig. Andere Menschen haben keine Lust, dafür ihr Geld auszugeben, sei es, weil sie es als sinnlos einstufen oder weil sie sich nichts vorwerfen lassen möchten. Viele sind genervt davon, ständig diese implizite Forderung zu spüren, und tun das gerne über soziale Medien und die Zeit Online-Kommentarspalte kund.

Was manche Konservative als den »Schuldkult«, »Selbsthass« oder das »schlechte Gewissen« der sogenannten Linken diffamieren, hat in Wahrheit nichts mit »links« zu tun, sondern folgt aus der Vorstellung vom liberalen Individuum: Die Bürgerinnen und Bürger würden frei und unabhängig ihre eigene Arbeitskraft und ihre eigenen Ideen einbringen und diese wie Besitztümer zum Tausch anbieten.

Von ihnen wird erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten entwickeln, Verantwortung für sich selbst übernehmen, dass sie starke und tätige Individuen sind, die freiwillig an der Gesellschaft teilnehmen.

So liegt auch die Vermutung nahe, dass die Einzelnen die globale Lage durch ihr Handeln verschuldet hätten. Manche fühlen sich einerseits schuldig. Andererseits denken sie, Menschen in Notlagen seien ihrerseits selbstverschuldet in diese gelangt und hätten die Pflicht, sich daraus zu befreien.

Das nackte Leben retten

Der heftigste Zorn der Gemeinschaft lässt sich folglich auf Menschen lenken, die es sich in der sogenannten sozialen Hängematte »bequem« machen. Dabei bleibt der Hauptteil dieses Zorns für Migrant*innen und Geflüchtete reserviert. Alle Menschen in Not sind eine lebendige Erinnerung daran, was wir verdrängen müssen: dass unser Auto und unser Kaffee ihre Not mitverursacht. Verbunden mit rassistischen Projektionen kann das zu dem Wunsch führen, »diese« Menschen mögen ganz einfach verschwinden.

Dürfen sich Geflüchtete sogenannten Luxus leisten? Natürlich nicht. Ihre Duldung, ja ihr Recht, überhaupt nur zu existieren, hängt davon ab, dass sie in Not sind. Und sie müssen in Not bleiben, um weiter existieren zu dürfen. Das nackte Leben dürfen sie retten, mehr nicht. Schon das Smartphone, das vielen erst die Flucht ermöglicht, ist zum Symbol des feixenden Asylbetrügers geworden, der uns alle nur abziehen will. Wer offen zugeben würde, nicht nur das nackte, sondern gar ein besseres Leben zu suchen, wäre damit automatisch ein »Wirtschaftsflüchtling« und hätte im eigenen Land zu bleiben, um dort das selbstverschuldete »Volksschicksal« zu teilen. Echte Hardliner wenden diese Logik auch auf Kriegsgebiete an: Da bleiben, kämpfen, aufbauen sei die Aufgabe, vor der sich niemand drücken dürfe.

Würde und Freiheit pro Kopf

Dürfen sich Erwerbslose sogenannten Luxus leisten? Nein, auf keinen Fall. Der Hass, der ihnen als Gruppe entgegengebracht wird, ist milder, weil er nicht die Entgrenzung erfährt, die Rassismus erlaubt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass die Grundsicherung der Erwerbslosen an ihre Notlage gebunden ist und sie diese Notlage kontinuierlich nachweisen müssen. Die Würde und die Rechte, die ihnen zustehen, sind sehr genau abgemessen. Monatlich erhalten sie Zuteilungen für Würde und Rechte, die aus Posten bestehen wie 39,91 Euro für Freizeit, Unterhaltung und Kultur, 10,35 Euro für Gaststätten und Beherbergung, 1,06 Euro für Bildung. Schülerinnen und Schüler bekommen ein »extra Bildungspaket«. Das heißt, sie erhalten einzelne Leistungen möglicherweise auf Antrag erstattet, wie etwa die Teilnahme an Klassenfahrten. Mit der Freiheit sieht es etwas anders aus.

Es gehört, wie gesagt, zu unserer Idee vom Individuum, dass alle Menschen am Markt freiwillig teilnehmen. Wenn das nun offensichtlich nicht so ist, müssen wir eine Art von »doublethink« anwenden, wie es George Orwell in seiner Dystopie »1984« nannte. Wo keine Freiheit ist, wird trotzdem welche dokumentiert.

So müssen sich Erwerbslose selbst zum Willen bekennen und verpflichten, ihre Notlage zu beenden. Auch diesen Willen müssen sie ständig nachweisen. Die sogenannte »Eingliederungsvereinbarung« dient dazu, der erwerbslosen Person eine Illusion des freien Handelns und der eigenen Entscheidung zu geben. Freundlich interpretiert, ist das ein Versuch, sie zu motivieren. Das könnte auch funktionieren, wenn die eigene Machtlosigkeit nicht so stark spürbar wäre, wenn man nicht »wie ein Kaninchen vor der Schlange« auf dem Amt stünde, wie es Betroffene beschreiben.

Als Kaninchen vor der Schlange ist man starr, bewegungsunfähig, vereinzelt, alleingelassen, ausgeliefert. Aus diesem Grund sieht beispielsweise die Berliner Erwerbsloseninitiative BASTA! eine wichtige Aufgabe darin, Menschen zum Amt zu begleiten — nicht nur, um zu übersetzen oder zu erklären, sondern, um Unterstützung und Zeugenschaft zu geben. Deutlicher kann das Ausgeliefertsein nicht werden. Niemand kommt auf die Idee, Menschen seien auf dem Amt ja nicht alleine, weil sie sich rat- und hilfesuchend an ihre Sachbearbeiterin wenden könnten. Vielmehr ist klar, dass sie sich in der Position von Angeklagten befinden, die den Nachweis zu erbringen haben, dass sie alles tun, um sich aus ihrer selbstverschuldeten Abhängigkeit zu befreien.

Abhängig sind wir alle

Im Umgang mit jenen, die nicht über eigene Mittel verfügen, zeigt sich das wahre Menschenbild. Was ein Mensch unbedingt braucht, will die Gemeinschaft jedem zugestehen, keinesfalls aber auch nur einen Cent darüber hinaus. Dieses »unbedingt brauchen« wird so verstanden, dass die Menschen überleben und funktionieren können. Eine gewisse Unschärfe ist einkalkuliert, das heißt, ein paar gehen kaputt, werden krank, unglücklich oder sterben, weil es doch zu wenig war. So ist das eben, wenn wir gezwungen sind, so knapp wie möglich zu rechnen, um die Rentabilität der Grundsicherung nachzuweisen. Wir haben uns ein System errichtet, in dem eingebaut ist, dass für alle nur das absolut Notwendigste da ist. Dieses Notwendigste haben wir ziemlich knapp bemessen.

Es muss ein Gemeingut geben, das allen gehört und das für alle gepflegt und verwaltet wird.

Bewegung der “Konvivialisten”

Das liegt wiederum daran, dass wir diese Vorstellung vom liberalen Individuum haben: Alle Einzelnen haben schon etwas, das sie ganz frei und freiwillig zum Tausch auf den Markt bringen können. Daraus würde folgen, dass die öffentlichen Güter nur denen gehören, die sie durch ihre Steuern selbst bezahlt haben. In Wirklichkeit haben die meisten Einzelnen nichts. Sie werden in vollständige Abhängigkeit hinein geboren, und die meisten Menschen bleiben ihr Leben lang darin. Würden wir diese Abhängigkeit aller von allen anerkennen, wie es zum Beispiel die zeitgenössische philosophische Bewegung der »Konvivialisten« fordert, so wäre klar: Es muss ein Gemeingut geben, das allen gehört und das für alle gepflegt und verwaltet wird.

Wer etwas Nutzloses genießt und sei es noch so klein, beweist damit, nicht im engen Kreis der Notwendigkeit gefangen zu sein. Eben darum ist es in Wirklichkeit schrecklich, dass wir so bescheiden sind, was den Luxus angeht. Was eigentlich lebensnotwendig wäre, um frei zu sein und sich als Mensch zu entwickeln, nennen wir Luxus und nennen es damit unnötig.

Darum sollten wir damit beginnen, dass wir uns gönnen, anderen und uns selbst. Wir sollten begreifen, dass wir unsere eigene Position nicht selbst errungen oder verschuldet haben. Es ist gut und wichtig, das Beste zu tun, sich selbst zu verwirklichen und seine Fähigkeiten auszubauen. Und es ist ebenso wichtig, darauf zu achten, wie man lebt, was man einkauft, wie man mit den Menschen umgeht. Aber so, wie die Dinge realistisch gesehen sind, haben nicht alle diese Möglichkeiten zur Entwicklung und zur Selbstverwirklichung.

Die gegenseitige Abhängigkeit anzuerkennen, heißt: Wir sollten weder von uns selbst noch von anderen fordern, sich für unsere Position in der Gesellschaft alleine zu verantworten.

Sich als Individuum entwickeln zu dürfen, ist kein Luxus — und wenn doch, ist Luxus das, was wir am nötigsten haben. Wir dürfen ihn genießen und wertschätzen, ohne uns schuldig zu fühlen. Das ist aber nur möglich, wenn wir uns selbst und andere Menschen so betrachten, dass wir mehr sind als Maschinen. Menschen, denen ein Spielraum zusteht, ein Raum für Irrtum, für eigene Entscheidungen, die sie nicht rechtfertigen müssen. Natürlich muss dieser Spielraum auch begrenzt werden und das geschieht im Zusammenleben. Aber um ihn sinnvoll zu begrenzen, muss er erst einmal in der eigenen Vorstellung geöffnet werden.


Illustration: Richard Klippfeld für transform

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