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Grenzerfahrung Europa

Im Abteil des Nachtzugs sind die Sitze umgeklappt und bilden eine große Liegefläche, auf der ein Gewirr menschlicher Gliedmaßen ruht. Nur ein Platz am Fenster ist Sitzplatz geblieben. Ein junger Mann sitzt dort, den Oberkörper wechselnd auf den Knien, dann wieder auf dem kleinen Tischchen abgelegt, nach Schlaf suchend, Kopfhörer in den Ohren. Das Schnarchen einer Frau im pinken Nicki – meine Oma würde es „Hausanzug“ nennen – übertönt den gleichmäßigen Takt der Bahn. Ich hänge zwischen den Erinnerungen an das, was warund dem, was auf mich zukommt, wenn ich nach dieser kleinen Reise in die toskanischen Hügel wieder daheim bin. Die Laternen malen tanzende Schatten auf die Wände.

Wir durchsuchen unsere Taschen nach unseren Ausweisen. Als wir sie vorzeigen wird ein kurzer desinteressierter Blick darauf geworfen.

Gerade war ich fast ins Reich der Träume entglitten, als der Zug hält. Erste Station in Österreich. Es dauert nicht lange, bis die Schaffnerin in Begleitung zweier Grenzbeamter, die ihre Taschenlampen-Kegel durch den Gang schwenken, zielstrebig die Tür unseres Abteils öffnet. Ausweiskontrolle. Der Familienvater hat die Papiere von Frau und Kindern gleich parat. Sie dösen weiter. Wir durchsuchen unsere Taschen nach unseren Ausweisen. Als wir sie vorzeigen wird ein kurzer desinteressierter Blick darauf geworfen. Die Aufmerksamkeit gilt ziemlich offensichtlich dem allein reisenden jungen Mann, der sich nun aus seiner unbequem aussehenden Schlafposition aufgerichtet hat. Nicht selten weisen Schaffner*innen Grenzbeamte gezielt auf „verdächtige“ Personen hin. „Ausweis?!“ – Fragender Blick. „Passport?!“ Der Ton ist harsch. „No Passport“ ist die eingeschüchterte Antwort. „Where are you from?“ „Egypt“ Einer der Beamten bedeutet ihm mit einer Handbewegung, mitzukommen. „Come with us.“

Der junge Mann hebt seinen schweren Koffer von der Ablage, klettert über die Liegefläche und bemüht sich, die dort schlafenden Kinder nicht zu wecken. Ein Balance-Akt, bei dem die drei Beamten ohne jede Hilfestellung zusehen. Wut und Traurigkeit ergreifen Besitz von mir, schnüren mir die Kehle zu. Die drei steigen aus. Der Zug steht noch eine Weile. Als er abfährt, ist kein Sitz in unserem Abteil mehr hochgeklappt: Eine glatte Fläche, ausgefüllt von schlafenden Körpern, als wäre nie Platz für eine Person mehr gewesen. Auch ich nehme diesen Platz nun in Anspruch um mich auszustrecken, starre aus dem Fenster und schäme mich.

Ließen wir den Platz frei, würde er natürlich auch nicht wieder kommen. Ich erinnere mich an eine Busfahrt im Sommer. Damals fuhr ich von Zürich nach Hamburg. Ebenfalls mitten in der Nacht kam es zur Grenzkontrolle. Ich suchte nervös nach meinem Portemonnaie. Nicht weil ich Angst hatte, raus gezogen zu werden, sondern weil ich fürchtete, es verloren zu haben. Ich wühlte und suchte noch, als die Beamten neben meinem Sitz standen. Es interessierte sie nicht. Die italienischen Papiere des neben mir sitzenden, recht dunkelhäutigen Mannes beäugten sie kritisch. Was er in Deutschland mache, wie lange er bleiben wolle. Als sie weiter gingen, hatte ich meinen Ausweis noch immer nicht gefunden. Drei Schwarze wurden aufgefordert mit ihrem Gepäck auszusteigen. Als der Bus abfuhr, ohne dass sie wieder eingestiegen waren, machten sich einige Frauen um die Fünfzig in Sektlaune auf den frei gewordenen Plätzen breit. Es ekelte mich an. Und nun lag ich selbst hier. Mit einem Kloß im Hals, aber was änderte das?

Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es mir Leid tut, dass Europa so ist

Ich schämte mich auch für meine Sprachlosigkeit. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es mir Leid tut, dass Europa so ist, dass nicht alle hier mit dieser Gesetzgebung und diesem Umgang einverstanden sind. Und den Beamten hätte ich gerne ins Gesicht geschrien, dass sie genau diese Ungerechtigkeit praktisch stützen und damit erst möglich machen. Weil sie Menschen, je nach dem welchen Pass und welche Hautfarbe sie haben, anders behandeln, ihnen Reisefreiheit zugestehen, entziehen, oder unangenehme, ängstigende Momente selbst für legal reisende Menschen entstehen lassen. Ein anderes Mal, zur Abendstunde in einem Bahnhof des Ruhrgebiets beobachtete ich, zu jenem Zeitpunkt selbst in Sektlaune, wie ein dunkelhäutiger Mann, der nichts weiter tat als den Bahnhof zu durchqueren, von Polizeibeamten aufgefordert wurde seine Papiere zu zeigen.

Vom Alkohol ungehemmt war ich auf sie zugegangen und hatte ziemlich frech gefragt, ob sie meinen Ausweis nicht auch sehen wollten. Sie waren verwirrt. „Natürlich nicht.“ „Sie wollten seinen Ausweis nur sehen, weil er schwarz ist! Das ist Rassismus!“, empörte ich mich. „Nein. Das sind Ermittlungen. In Bonn wurde eine Kofferbombe gefunden und die Person auf dem Überwachungsvideo ist eindeutig schwarz.“ Tolles Argument. Wäre die Person auf den Aufnahmen eindeutig eine blonde Frau gewesen, die Polizei würde wohl kaum auf die Idee kommen, alle blonden Frauen, die sich im Umkreis von 150 Kilometern an einem Bahnhof aufhalten, nach ihren Papieren zu fragen. Egal was ich in jedem dieser Momente gesagt habe oder hätte, es war oder wäre nur symbolisch gewesen. An der Situation für Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, ändert es nichts.

Ängste um Werte und kein Platz mehr im vollen Boot ?

Ich schäme mich für Europa und ich schäme mich, deutsch zu sein. Von einer Politik repräsentiert zu werden, die so gut wie alle Länder zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt, um einem geängstigten Teil der Bevölkerung, die um „deutsche Werte“ fürchtet und keinen Platz mehr im „vollen Boot“ sieht, entgegen zu kommen. Wie würden diese Menschen fühlen, wenn sie eine der beschriebenen Situationen mitbekommen hätten? Würden sie sagen, „Ja genau, richtig so, raus mit ihm.“ Oder würden sie sich auch fragen, was ihnen eigentlich das Recht, diesen unvergleichlichen Luxus der Reisefreiheit beschert? Das Geboren-Sein an einem bestimmten Ort – Nicht mein Verdienst. Ich hätte ihm gern meinen Ausweis gegeben. Von mir will ihn ja eh niemand sehen.

Ich fragte mich, ob ich ihm irgendwie hätte helfen können. Als wir in den Zug stiegen, saß er schon auf seinem Platz und wirkte etwas schüchtern und unsicher. Ich fragte mich gleich, ob er wohl auf der Flucht sei, wollte mich dann aber von meinen Vorurteilen befreien und sagte mir, nur weil er dunkle Haut und Haare hat, muss er noch lange kein Flüchtender sein. Vielleicht ist er Italiener und besucht Freunde in München oder er ist selbst Münchner? Ich hätte fragen können, wollte aber nicht übergriffig sein. Und wenn wir ins Gespräch gekommen wären, was hätte ich dann für ihn tun können? Ihn verstecken unter den umgeklappten Sitzen? Ratlos, Schlaflos grübelt es in mir. Unabhängig davon, dass eine echte Lösung natürlich nur eine empathische Politik wäre, überlege ich, was ich tun könnte. Ich sollte mir das Auto meiner Eltern leihen und nach Griechenland fahren, zwei Leute auf der Rückbank mitnehmen, Fluchthelferin werden, auch wenn das strafbar ist. Ich sähe mich in der unangenehmen Situation, entscheiden zu müssen, wen ich nun mitnehme.

Keine zwei Wochen später verkündete der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière, es sei gelungen, das Migrationsgeschehen zu steuern und zu ordnen. Er sieht den Rückgang der Asylanträge in Deutschland von 890.000 (2015) auf 280.000 (2016) als Erfolg der Flüchtlingspolitik, also der Schließung der Balkanroute und dem Pakt mit der Türkei. Die Schattenseiten dieses „Erfolgs“ sind katastrophale Bedingungen in Lagern in Griechenland, wo Menschen bei Schnee und Kälte in Zelten leben, es keine adäquate Versorgung gibt, sie Feuer machen, um nicht zu erfrieren, was wiederum ein hohes Sicherheitsrisiko birgt. Und eine Mauer an der Grenze der Türkei, an der bereits 163 Menschen erschossen wurden.

Ist es das, was Erfolg bedeutet? Ende 2015 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Im November letzten Jahres flohen allein 70.000 Menschen aus dem syrischen Alleppo. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, die „Flüchtlingskrise“ sei bewältigt, gesteuert, geordnet. Weiterhin suchen Menschen ihren Weg nach Deutschland oder anderswo, in ein neues Leben ohne Krieg, Verfolgung und Armut. Ihnen den Zugang zu verweigern und das auch noch als Erfolg zu werten ist zynisch und unmenschlich. An den deutschen Grenzen wurde 2016 mehr als doppelt so vielen Menschen die Einreise verweigert als 2015. Es passiert jeden Tag. Und nur weil wir es nicht mehr sehen, weil die Menschen nicht mehr auf den Vorplätzen deutscher Bahnhöfe campieren, heißt das noch lange nicht, dass das Problem gelöst ist. Es ist nur verschoben, z.B. nach Griechenland. Doch die Empörung bleibt aus. Vielleicht, weil sich auf der Weltbühne gerade noch Unglaublicheres abspielt. Aber auch das Engagement in Deutschland ist zurück gegangen.

Seit den Silvesterübergriffen (2015/16) verzeichnen Hilfsorganisation laut eines WDR-Radio-Features einen deutlichen Rückgang der Hilfsbereitschaft. Wir scheinen zu vergessen, uns zu gewöhnen. Dabei ist es absurd, zu glauben, wie seien in der Flüchtlingsfrage „über den Berg“. Bis 2050 wird sich ein klimabedingt steigender Meeresspiegel beispielsweise in Bangladesch das bisherige Zuhause von schätzungsweise 26 Millionen (!) Menschen einverleiben. Viele von ihnen werden in die Großstädte Asiens fliehen, doch auch nach Europa werden die Menschen in der Hoffnung auf ein „normales“ Leben kommen. Sie aufzunehmen liegt in der historisch bedingten Verantwortung des „Westens“, aber auch in unserem Selbstverständnis als soziale, mitfühlende Wesen. Die Weichen dafür werden nicht selten von der Öffentlichkeit unbeachtet im Stillen gestellt. Doch es ist wichtig, die „Flüchtlingsfrage“ weiterhin als eine offene zu verstehen, trotz de Maizières Erfolgsbekundungen.

Was also tun? Wie die Sprachlosigkeit überwinden? Und warum überhaupt, wenn es an der politischen Lage doch nichts ändert? Eben weil es doch etwas ändert. Eine Stimmung im Land, die nach Rechts zu rücken scheint, braucht Gegenwind offener Solidarität auf allen Ebenen. Weil eben diese Stimmung politische Entscheidungen beeinflusst. Und wenn nur die ängstliche Rechte laut ist, werden ihre Bedenken politische Entscheidungen prägen. Das dürfen wir nicht zulassen. Beim nächsten Mal, wenn ich zur Zeugin von, wenn auch nur latentem ausgrenzenden Äußerungen oder Verhalten werde, werde ich deshalb nicht einstecken und denken, es hätte keine Bedeutung, ob ich ihn diesem Einzelfall handle. Oder es geht mich irgendwie nichts an. Ich werde mein Dagegen-Sein zeigen, und das Feld nicht den Unterstützern einer nicht zu duldenden Politik überlassen. Ich hoffe, ich brauche dann keinen Sekt-Schwipps, um mich selbst und die Grenzen dessen, von dem ich denke, dass es mich etwas angeht, zu überwinden.

Beitragsbild: flickr.com // tribp // Lizenz CC.0

  1. Ein sehr guter Beitrag, der viele Punkte anspricht, die in der vernetzten Wissensgesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein sollten, es aber nicht sind, weil sie es nicht sein können, solange es das Recht des Stärkeren gilt. Dies zu überwinden, ist die Herausforderung. “Ich schäme mich für Europa und ich schäme mich, deutsch zu sein”, schreibt die Autorin mit nachvollziehbarer Intention: Aber sie irrt.

    Die Anständigen, diejenigen, die für eine menschliche Moral und eine Welt ohne Grenzen und Ausgrenzung stehen und einstehen, die brauchen sich nicht zu schämen. Wofür auch?! Sie müssen aufbegehren gegen das Unrecht – stark sein, Haltung zeigen und diejenigen anprangern, die für dieses Unrecht verantwortlich sind.

    Europa – und das ist die traurige historische Bilanz – hat seinen Aufstieg dem Kolonialismus, der nackten Gewalt und der Ausbeutung zu verdanken, dessen Mixtur per se den Rassismus beinhaltet. Dieses Gift wirkt bis heute, auch wenn immer wieder von Werten geredet wird, die es zu verteidigen lohnen würde. Welche Werte sollen das sein? Diese Frage wird nie beantwortet, weil sie nicht mehr beantwortet werden kann von einem System, dessen Antriebsenergie die bleiche Ungerechtigkeit ist: Der Kolonialismus besteht fort, er nennt sich bloß anders.

    Menschenrechte, Humanität, Hilfsbereitschaft und Einsicht in eigene Verfehlungen – alles ist der Beliebigkeit des Konsens geopfert worden. Konsens im Zusammenhang mit Flüchtlingen – eine Ekelhaftigkeit der Händler und Verkäufer, die ohne Werte sind: Werte sind nicht verhandelbar und kennen keine Ausnahme.

    Doch es ist diese vermeintlich moralische Überlegenheit, die sich aus dem Konsens ableitet, aus der Ober- oder Untergrenze, gegenüber anderen, als hätten diese keine Moral und keine moralische Rechtfertigung auf ihrer Seite. Menschen flüchten und streben nach einem besseren Leben – der banalste Wunsch, den man sich vorstellen kann. Und dieses Streben wird zur Unmoral erklärt von Menschen, deren Charaktere abgrundtief hässlich sind.

    Mauern werden gebaut, um das Elend zu verdecken. Überall. Selbst in den deutschen Städten und Gemeinden wird versucht jede Verelendung zu maskieren – aus den Augen, aus dem Sinn. Warum? Weil die Befreiung von der gesellschaftlichen Verantwortung und der Schuld, egal wo sie auf dem Globus passiert, gespeist wird aus dem Bewusstsein, dass es Schichten und Klassen gibt, die sich in Feindschaft gegenüberstehen müssen, weil das Wohl der einen das Weh der anderen ist. Klasse gegen Klasse – und ganz oben thronen die privilegierten Schichten, die nichts mit den Gemeinen zu tun haben.

    Das ist die Realität, die in jeder Nation zu finden ist und somit das eigentliche Ziel des Handelns beschreibt: Weg mit den Nationalstaaten und hin zu einem globalen menschlichen Patriotismus, der keine Grenzen und keine Klassen kennt, aber ein Miteinander und ein menschliches Verantwortungsbewusstsein.

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