Eine haarige Angelegenheit – Teil 2

so richtig nackt sein.

alles freigelegt, voll angreifbar

da steh’n – mutterseelenallein –

gaffende, die zuseh’n

beim nackt sein

fühle ich mich bedeutungslos.

verschwindend geringe größe

bei größtmöglicher verletzlichkeit.

ich dulde nicht, dass ihr mich alleine lasst beim nackt sein.

(Sofia Wagener)

Haar-los-werden

Ich war die Königin der Selbstoptimierung und der erfüllten Erwartungen. Erstmal gemocht werden, danach kommt der Rest.

Die Haare auf meinem Kopf habe ich mir abrasiert, gespendet für Perücken. Ein bisschen mehr Normalität für die Haarlosigkeit. Fragen stellen: Was hat es eigentlich mit unseren Haaren auf sich? Warum legen wir so viel Wert auf sie? Normal ist, was einem im täglichen Leben begegnet. Haarlosigkeit ist deshalb heute noch nicht normal. Besonders Kinder konstruieren so ihre Weltsicht: Was sie sehen ist die Realität. Es geht also um Relationalität. Wer wird repräsentiert?  Es geht aber auch um die Frage: Wer bin ich? Wer versuche ich zu sein? Und wer möchte ich sein?

Erwartungen, haushoch, schwer zu erfüllen. Am Ende des Tages die Frage: War ich erfolgreich?

Ich war die Königin der Selbstoptimierung und der erfüllten Erwartungen. Erstmal gemocht werden, danach kommt der Rest. Erwartungen, von denen ich glaubte, dass andere sie an mich stellten (über Jugendjahre zusammengesammelt aus vielen unweise ausgewählten Magazinen), habe ich mir einfach einverleibt, verdaut. Sie wurden zu meinen eigenen. Erwartungen, haushoch, schwer zu erfüllen. Am Ende des Tages die Frage: War ich erfolgreich?

Die Quersumme eines maximal liebenswerten Menschen, die ich zu erreichen versuchte, bezog viele Äußerlichkeiten mit ein. Je durchschnittlicher und normierter, desto unauffälliger, und umso liebenswerter. Je weniger ich aneckte, desto mehr würde ich gemocht werden. Diese Gleichung hatte ich aufgestellt. Das gleichzeitige Bedürfnis, an den Pfeilern zu rütteln, die mich zu diesem Glauben geführt hatten, führte zu regelmäßigen Zerreißproben. Beides unter einen Hut zu bekommen, ist schwierig. Rebellion und Angepasstheit verstehen sich nicht besonders gut. Widerspruch und der Wunsch von jedem Menschen gemocht zu werden, lassen sich nicht parallel verwirklichen. Ein Dilemma.

 

Geeint in der Uneinigkeit

Das Selbstkonzept der Sozialpsychologie besteht aus „I“ und „me“, „the knower“ und „the known“. Es umfasst Wahrnehmung und Wissen, um die eigene Person. „I“ ist der aktive handelnde Teil des selbst. „Me“ das Fundament, über das Wissen besteht. In meinem Fall passen Wissen und Handeln nicht zusammen. „I“ und „me“ sind sich uneinig. Dies führt zu kognitivem Dissonanzen, einem unguten Gefühl, weil Handlungen nicht mit Gefühlen und Überzeugungen übereinstimmen. Aufgelöst werden können diese indem:

  1. Das zugrundeliegende Problem gelöst wird. Häufig ist es dabei notwendig, den Blickwinkel zu ändern, um neue Lösungswege zu erkennen. Mit der Lösung verschwindet auch die Dissonanz.
  2. Die Wünsche, Absichten oder Einstellungen aufgegeben werden oder auf ein erreichbares und somit konfliktärmeres Maß gebracht werden.
  3. Die physiologische Erregung gedämpft wird, z. B. durch Sport, durch ausgleichende Aktivitäten, durch Ruhe, Vermeidung von vermeidbarem Stress, durch Meditation, aber auch durch Alkoholkonsum, Beruhigungsmittel, Tabak oder andere Drogen.

Meine Wünsche und Einstellungen wollte ich nicht aufgeben. Gleichberechtigung, Individualität, Freiheit, Offenheit, Vielseitigkeit, diese Überzeugungen waren die Grundsteine meines Selbst. Mein Problem war nicht das, was ich in meinem Inneren vorfand, sondern das, was ich im Gegensatz dazu nach außen präsentierte. Ich handelte oft nicht nach meinen eigenen Überzeugungen, denn manchmal machten sie mir Angst. Das zugrundeliegende Problem zu lösen, ist die schwierigste aber auch die nachhaltigste Art, den kognitiven Dissonanzen an den Kragen zu gehen. Lösung zwei und drei sind reine Symptombekämpfung. Ich musste also Handlungen und Entscheidungen an meine Überzeugungen, Gefühle und Werte anpassen.

Zustimmen, der Angepasstheit wegen, obwohl ich das Gegenteil glaubte.

Die kognitive Dissonanz bezieht sich auf eine Diskrepanz zwischen mir und mir selbst und nicht zwischen mir und der Gesellschaft. Die Diskrepanz zwischen mir und den gesellschaftlichen Erwartungen war klein. Die Diskrepanz zwischen mir und meinen Einstellungen dafür umso größer. Zustimmen, der Angepasstheit wegen, obwohl ich das Gegenteil glaubte. Natürlich könnte ich versuchen mich selbst zu überzeugen. Mir selbst mein Verhalten zu erklären, das habe ich ja auch viele Jahre getan.

 

Das gute Leben ist das, was sich echt anfühlt.

Glücklich gemacht hat mich das nicht. Mit gutem Leben hat das nichts zu tun. Das gute Leben ist das, was sich echt anfühlt. Eine Resonanz zwischen mir und mir selbst und auch zwischen mir und der Welt. Tagtäglich erleben wir alle kognitive Dissonanzen, sei es aufgrund fehlender Informationen oder um uns in Schemata zu pressen oder Situationen anzupassen. Oft verfallen wir dann in Erklärungsstrategien, reden Entscheidungen und Verhalten schön oder versuchen sogar unsere Überzeugungen zu verändern, aus Bequemlichkeit. Zu einem erfüllten Leben kann das nicht führen.

Ehrliches Leben 

Von außen nach innen fühlt sich das Leben wie eines von vielen an.

Die Frage ist doch, lebe ich von außen nach innen, oder von innen nach außen. Von außen nach innen fühlt sich das Leben wie eines von vielen an. Katalogleben, Stangenware. Lebe ich von innen nach außen, mache also meine Überzeugungen zur Grundlage meines Lebensentwurfs, fühlt sich das Leben mehr wie mein eigenes an. Es fühlt sich besser an, ich möchte glatt behaupten: gut.

Haarlos werden hieß auch: Erwartungen loswerden. In den Rahmen, den ich mir gesteckt hatte, passte ich nicht mehr rein. Ohne Haare fiel ich da raus. Einen Monat bin ich jetzt haarlos. Einen Monat fühle ich mich nun schon ein bisschen nackt und sehr verletzlich. Merkwürdigerweise macht das jedoch keine Angst, sondern neugierig. Was denkt mein Gegenüber?

Ohne Vorhang zum Verstecken muss das Selbstbewusstsein zwangsläufig dem neuen Erscheinungsbild gerecht werden: Es muss wachsen. Früher konnte ich am Abend die Schuhfarben der Passanten auswendig aufsagen, heute kenne ich ihre Augenfarben. Aufrecht durchs Leben gehen hat sich kurz ungewohnt angefühlt, heute ist es großartig.

Manchmal ist Zwangsläufigkeit gut. Sie zwingt einen, sich zu bewegen.

Die Haare habe ich gegen ein Stück „ich“ eingetauscht. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, ein bisschen mehr schieres Selbst. Plötzlich kann man den eigenen Kopf erkunden, entdeckt Narben, Leberflecken und Haarwirbel. Die Erfahrung ist befreiend, zumindest war sie das für mich. Ich möchte mir nicht anmaßen zu behaupten, dass das für jeden so sein muss. Ich möchte aber behaupten, dass solch eine Erfahrung jeden verändert. Zwangsläufig bekommt man ein neues Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Haaren.

Manchmal ist Zwangsläufigkeit gut. Sie zwingt einen, sich zu bewegen. Sie zwingt einen, Dinge zu hinterfragen. Die meisten Veränderungen im Leben sind nicht besonders endgültig: Eine neue Jacke, eine neue Meinung, mehr Sport… fröhlich kann ich vor- und zurückrudern. Die Dinge wieder verwerfen, wieder von vorn anfangen und mir unter Umständen aus Inkonsequenz jegliche Erfahrung verweigern. Sollte ich nicht anfangen Perücken zu tragen, sitze ich in der Falle. Aus der Haarlosigkeit komme ich so schnell nicht wieder heraus.

Verletzlich & nackt 

Ich fühle mich freigelegt, verletzlich. Die Kombination macht mich stark. Das kleine Stück „ich“, das hinter den Haaren hervorgekommen ist, zu dem fühle ich mich verbunden. Ich bin stolz auf seine Verletzlichkeit und seine Nacktheit. Ich bin froh, dass es sich nun ehrlich zeigt. Plötzlich bekommen Begegnungen eine andere Tiefe, eine neue Bedeutung. Sie fühlen sich echter an. Nicht mehr meine krampfhaft hochgehaltenen Selbsterwartungen begegnen Menschen und machen Erfahrungen, sondern ich.

Meinen vorher sorgsam selbstgesteckten Rahmen habe ich gesprengt.

Haarlos werden bedeutet auch: Widerspruch ertragen. Menschen, denen es nicht gefällt, wenn an ihrem Weltbild gerüttelt wird. Neulich hat mich eine Freundin gefragt: „Was ist mit solchen Reaktionen? Willst du mit den Leuten dann nichts mehr zu tun haben?“. Nein, habe ich gedacht. Ich bin gerne diejenige, die ihr Weltbild ein bisschen durcheinander bringt. Ich werfe gerne Fragen auf. Ohne Haare kann ich mir nun die eigene Fragwürdigkeit eingestehen, die Unsicherheiten und die vielen inneren Widersprüche. Die Dinge müssen nicht mehr klar und eindeutig sein. Meinen vorher sorgsam selbstgesteckten Rahmen habe ich gesprengt. Da passe ich nicht mehr rein, da geht kein Weg dran vorbei. Niedlich und angepasst, das bin ich jetzt nicht mehr. Die Angst, dass die Erwartungen mit den Haaren wieder wachsen, ist da. Deshalb bleiben sie erstmal ab, basta!

 

Teil 1:

Eine haarige Angelegenheit – Teil 1

 

 

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Titelbild: Tookapic CC0; Beitragsbild: Lena

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