Die Utopie, die zur dir passt

Nenne mir einen großen Gegenentwurf zum Bestehenden! Welche Gruppierungen lehnen unser „bestehendes System“ besonders radikal ab? Da gäbe es wohl nur noch einige wenige politische, manche religiöse extreme Strömungen und Kim Jong-Un – wenig attraktiv…

Die Grenzen zum System verschwimmen.

Hier und da krebsen kleine Gruppen oder Ideen vor sich hin, aber von einem „großen Wurf“, einer Führungspersönlichkeit oder einem neuen Handbuch der Revolution (die Mao-Bibel zieht nicht mehr) ist nirgendwo etwas zu sehen – hier mal etwas Blockupy, da etwas Tsipras und Podemos. Die Grenzen zum System verschwimmen – denn Syriza und Podemos sind auch Parteien.

Ist das Fehlen der einen großen Utopie ein Problem?

Ist es nicht traurig, dass wir so postideologisch eingestellt sind? Nicht unbedingt: Wir sind weder betriebsblind durch das eigene Dogma, noch laufen wir Gefahr in engstirnigen Grabenkämpfen mit eigentlich ähnlich Denkenden zu verfallen. Superb! – Wäre schließlich nicht die Utopie, in die ganz viele Utopien passen, besonders überzeugungsstark?  (Frei nach den Zapatisten)

 

Es gibt keinen Gegenpol mehr.

Zeit wäre es: „Seit dem Ende der System-Rivalität des Kalten Krieges, gibt es keinen Gegenpol mehr, der durch seine bloße Existenz den „Wettstreit der Systeme“ bedingt.  Seitdem werden die Sozialsysteme der meisten Staaten nicht gerade generös ausgebaut. Steigende soziale Ungleichheit, Wirtschaftskrisen, Artensterben und Klimawandel. Und jetzt ist auch noch David Bowie tot – es muss etwas geschehen. Komisch ist nur: Da wurde in den letzten Jahren das Smartphone entwickelt, das Tablet und auch das Zwischending, das Phablet – aber es tauchte keine halbwegs vernünftige Idee auf, wie wir unsere globalen Herausforderungen angehen können.

Naja, ein paar Ansätze gibt es schon. Wir haben mal aufgelistet, welche zeitgenössischen Utopie-Optionen es gibt. Und dabei natürlich rechtsradikale oder ähnlichen Quatsch weggelassen.

 

Die Utopie gibt es ganz klar, und zwar woanders!

Den perfekten Ort auf ein bestimmtes Fleckchen Erde zu projizieren.

Es ist nach wie vor möglich, all seine schönen Vorstellungen über den „perfekten Ort“ auf ein bestimmtes Fleckchen Erde zu projizieren. Früher war es die Kaffeebauerngenossenschaft in Nicaragua, ein Kibbuz in Israel oder die Caracóles der Zapatisten in México – heute dagegen Orte wie das kurdische Rojava mit seiner selbstbestimmten Lebensweise.

Vorteil: Es gibt eventuell leckeren Kaffee und berührende Dokumentationen aus den Zeiten des Aufbruchs (danach wird es meist furchtbar kompliziert).
Nachteil: So eine Fernbeziehung mit der geliebten Utopie kann echt anstrengend und manchmal auch enttäuschend sein. Wer die Distanz aufheben will und vorbei fährt, stellt dafür mitunter fest: Die Utopie-suchenden Touristen sind entweder gar nicht, oder allzu sehr willkommen („Guck mal, ein Zapatisten-T-Shirt“).

 

Die Utopie liegt in der Spiritualität

Wenn Religion Opium für das Volk ist, dann wäre Spiritualität eine Einstiegsdroge.

Wer dem westlichen Konsum entsagen will, aber politische Aussagen scheut, mag die Konsumkritik gleich mit Spiritualität verbinden. Je nachdem wie konsequent man sein will, reicht dafür bereits ein Meditationskurs. Und wer es sich selbst und der Umgebung aber so richtig zeigen will, konvertiert. Der Schockfaktor variiert dabei mit der Religion: während fernöstliche Religionen immer noch ziemlich hip sind, reagiert die Verwandtschaft sicher panisch, wenn es der Islam werden soll.

Vorteil: Lässt sich super in den Alltag integrieren – ein bisschen runterkommen, um dann noch besser zu funktionieren. Auch toll: Je nach Auffassung der Spiritualität kann alles egal sein. Auch dieser Vorteil. Denn: es ist ja eh alles egal (Buddhismus) oder es wird nach dem Tod bestimmt besser (eine ganze Menge Religionen).
Nachteil: Wenn Religion Opium für das Volk ist, dann wäre Spiritualität eine Einstiegsdroge.

 

CSR, Siegel, Green Economy, Circular Economy

Ach komm, das kennst du ja schon alles.

Vorteil: du brauchst nicht alles ändern
Nachteil: du musst nicht alles ändern

Gemeinwohlökonomie & Solidarische Ökonomie

Kooperation, Selbstverwaltung, ökonomische Funktion und Solidarität mit der Gesellschaft.

Der Vordenker Christian Felber geht von zwei konträren Wertesystemen aus: dem in unserer Wirtschaft und dem in unseren Sozialbeziehungen. Sein Ziel ist es, in der Gemeinwohlökonomie, Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Mitbestimmung und Transparenz zur Grundlage wirtschaftlichen Handels zu machen. Ambitioniert. Umgesetzt wird das Konzept bisher von einer Handvoll Unternehmen, die sogenannte Gemeinwohlbilanzen erstellen. Solidarische Ökonomie geht ein Stück weiter, hier lauten die Merkmale: Kooperation, Selbstverwaltung, ökonomische Funktion und Solidarität mit der Gesellschaft. Es gibt unzählige Genossenschaften und Projekte die genau dies umsetzen wollen – in Brasilien gibt es sogar ein Sekretariat für Solidarökonomie. Neu ist das allerdings nicht: Diese Utopie hat sich bunt angezogen um junger zu wirken, stammt aber eigentlich aus den 70ern.

Vorteil: Diese Utopien sind umsetzbar – bereits im Kleinen.
Nachteil: Viele Ideen sind nichts neues. Trotzdem: alter Wein in neuen Schläuchen, unter neuen Schlagwörtern ist vielleicht nichts schlimmes, solange der Wein gut schmeckt. Aber fetischisiert Felber soziale Bindungen nicht vielleicht etwas? Läuft denn das Weihnachtsfest bei ihm immer friedlich ab?

 

Die Glücksökonomie

Die Häufigkeit von nachbarschaftlichen Schwätzchen.

Das Königreich Bhutan ist für Alternativwirtschaftler so etwas wie Panama für Janosch: Ort der Sehnsucht und doch so nah. Dort gibt es nämlich das Bruttosozialglück – eine glückliche Alternative zum Bruttoinlandsprodukt? Allerdings ist die Glücksmessung dort auch nur ein Indikator von vielen. Und auch in der EU werden Menschen nach ihrem Bauchgefühl zu Sicherheit, die Häufigkeit von nachbarschaftlichen Schwätzchen, sozialer Ungerechtigkeit, Zufriedenheit im Job und vielem mehr befragt.

Vorteil: Wer will denn bitte nicht glücklich sein?
Nachteil: Glück als Individuum oder als Gesellschaft ist nicht nur schwer zu messen, es ist auch unmöglich daraus etwas abzuleiten. Bei Menschen ist es Tagesform-abhängig, bei Gesellschaften der Stand der Dinge. Würdest du eine hohe Lebenserwartung vermissen und wärst unglücklich, wenn du sie nicht kennen würdest? Um bei Bhutan zu bleiben: Was bedeutet ein hoher „Glückswert“, bei geringer Pressefreiheit und Diskriminierung von Minderheiten?

Bedingungsloses Grundeinkommen

Man könnte die Mehrleistung durch Maschinen besteuern.

Jeder Mensch bekommt ein existenzsicherndes Einkommen und ist damit unabhängig(er) von Lohnarbeit – für Manche die Glück hatten, geht das schon heute. Da die Steuern auf Arbeitsleistung keinen unwichtigen Anteil am Staatssäckel ausmachen, gibt es nun Vorschläge Umweltverschmutzung oder eben die Mehrleistung durch Maschinen, der sog. Maschinen-Dividende, stärker zu besteuern.

Vorteil: Die Befürworter belassen es nicht mit „Dann wird anstrengende oder schmutzige Arbeit auch vernünftig bezahlt“ – nein, es geht um die Selbstbefähigung der gesamten Menschheit.
Nachteil: Mag absichtlich oder unabsichtlich mal eben den kompletten Sozialstaat abschaffen – wenn die Summe unter dem Existenzminimum liegt. Auch brauchen manche Menschen vielleicht mehr Geld, als das Grundeinkommen – sollten sie beispielsweise beeinträchtigt sein.

 

Sharing Economy

Einfach alles teilen, schon muss weniger produziert werden!

Lass uns einfach alles teilen, schon muss weniger produziert werden und mehr Leute können sich auch teure Produkte und Dienstleistungen leisten. Dabei lernen sich die Menschen gleich auch noch kennen.

Vorteil: Die Utopie ist nicht nur sichere Zukunft, sondern zum Teil bereits Gegenwart und Alltag. Gleichzeitig ist „wahres Teilen“ von gleichberechtigten Akteuren für viele Utopisten immer noch ein Silberstreif am Horizont.
Nachteil: Uber, Airbnb & Co. – inzwischen ist wohl allen klar, dass Sharing-Economy-Konzepte nicht automatisch den Kapitalismus abschaffen. Das ist natürlich nicht für alle Menschen direkt ein Nachteil.

Deine Wahl: war für dich „etwas dabei“?

Kritisierst du einfach das Bestehende?

Oder umgehst du die Qual der Wahl und kritisierst einfach das Bestehende? Das machen ziemlich viele Menschen. Nachteil: Seit Marx liegt die Messlatte an der Kapitalismuskritik recht hoch und sind wir mal ehrlich: Vieles wurde nun wirklich schon ein paar Mal gesagt! Außerdem: Wir können mit Fug und Recht davon ausgehen, dass Kapitalismuskritik nicht sonderlich gefährlich für den Kapitalismus ist – sondern eine Art Mischung aus Rosskur und Innovationsworkshop.

Wir erfahren nicht, ob sie uns in Bewegung setzt, wenn wir es nicht ausprobieren.

Ob du nun eine von den genannten Utopie überzeugend findest, keine oder mehrere – es sind Vorstellungen die Bewegungen erzeugen: Einsatz gegen Kohleenergie und Subvention von fossilen Rohstoffen, soziale Ungleichheit und Diskriminierung jeglicher Art, Niedriglöhne und Flughafenausbau. Aber auch für gerechteren Handel, weniger Chemikalieneinsatz in der Produktion, Gleichberechtigung oder kulturelle Vielfalt. Ob große oder kleine Utopie: Wir erfahren nicht, ob sie uns in Bewegung setzt, wenn wir es nicht ausprobieren. Also, auf geht’s!

PS.:Diese nicht ganz ernst gemeinte Auflistung von Utopien mit Vor- und Nachteilen ist natürlich selber zutiefst kapitalistisch, da offensichtlicherweise der “Verwertungslogik” entsprungen. Wem ist das aufgefallen? Und: Wer hat weitere Ideen?

 

Titelbild: CC, flickr, Jason Tester Guerilla

    1. Hi Patrick, absolut richtig! Aber da ich eher einen humorvollen Beitrag schreiben wollte, habe ich das Thema erstmal ausgelassen. Eine Postwachstumsökonomie/Suffizienz á la Paech und Welzer & Co. wäre einen eigenen Beitrag wert. Aber: Das Narrativ einer Postwachstumsidee inkl. Kritik an CSR, Siegel, Green Economy, Circular Economy etc., ist ja durchaus enthalten.

      1. Finde die Gemeinwohl-Ökonomie attraktiver als der Text es erscheinen lässt, auch weil es über 100 Firmen sind die die Bilanz erstellen..
        Der große Vorteil in ihr liegt für mich darin, dass es Raum gibt einen eigenen Lernprozess zu machen. Sie bietet Raum für Transformation, weil ich mit der Bilanz überprüfen kann wie sehr ich die Werte unserer Verfassung bereits lebe. Das ist für mich auch der Vorteil ggb. der Postwachstumsökonomie, die ein fertiges Konzept darstellt, was bekanntlich immer auf mehr Widerstand stößt, auch wenn die Wirtschaft der Zukunft so aussehen wird, sofern wir uns nicht ausrotten…

  1. Ich hab nur einen Hinweis zu Marx: Soweit ich von Marx etwas weiß, geht er davon aus, dass die Urgemeinschaft (die Gesellschaft vor dem Geld, dem Kapital) mit Tauschgeschäften Handel getrieben hat. Aktuelle Archeologie geht aber davon aus, dass innerhalb der Gemeinschaft so etwas wie “Sharing-Economy” abgelaufen ist. Der Jäger hat das geschlachtete Wild mit allen geteilt, wie der Löwe mit seinen Jungen. Wahrscheinlich samt Privilegien (Autorität darf sich das Beste rauspicken.)

  2. Ich habe es zusammen geschrieben, wie das System später aussieht:
    Unter http://www.meinwunderbarerberlinsalon.com (weiter unten) kann man meine Utopie in Form von Nachrichten aus dem Jahr 2020 lesen oder hier hören https://soundcloud.com/eva-catrin-reinhardt/20-uhr-nachrichten-31-12-2020 . Außerdem bastle ich an einem weltweiten Geschäftskontaktvermittlungsportal für Nachhaltigkeit, damit sich alle schneller finden … ich glaube das System muss sich von innen transformieren, anders wird es wohl nicht funktionieren….. Suche auch MitmacherInnen. LG Eva-Catrin

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