Die befreiende Macht der Inkonsequenz

Leicht haben es diejenigen, die ihrerseits auf Werte verzichten. Doch wen zwingt ein selbst auferlegter Verzicht eigentlich zur hundertprozentigen Konsequenz? Mal ganz ehrlich: Wer kann sich selbst schon komplett entziehen, aus dem gesellschaftlichen Kontext, den systemischen Zwängen? Wer ist wirklich konsequent?

Vielleicht sollten wir aufhören, uns hochtrabende Titel zu geben.

Postmaterialisten, Vegetarier oder Feministen. Vielleicht sollten wir aufhören, uns hochtrabende Titel zu geben. Sie nützen nur dem geistigen Bürokraten, der Menschen fein säuberlich in Schubladen einsortiert sehen will. Mit einem Abzeichen als links denkender Mensch würde die Aufnahme eines Kredites zur Unmöglichkeit, wenn die Konsequenz zu Ende gedacht wird.

Dabei lebt sich wahrlich frei und ungeniert, wer seine Widersprüche akzeptiert als das, was sie sind: ganz und gar menschlich. Bisweilen recht befreiend. In Wirklichkeit wird dir niemand deinen Mitgliedsausweis vom Veganerbund wegnehmen, wenn du dir mal ein Käsebrot schmierst. Der einfache Grund: Es gibt einen solchen Ausweis nicht. Und wenn dieser Bund tatsächlich so drauf wäre – wer würde ihm schon beitreten wollen?

Wenn wir ganz ehrlich sind, genießen wir sie doch auch, die kleinen Verbrechen, die wir uns tagtäglich erlauben. Klar haben wir uns selbst letzte Woche noch versprochen, den Laptop nie mehr mit ins Bett wandern zu lassen um unserer Serienlust zu frönen. Dann tun wir es wieder und fühlen uns unendlich schuldig. Aber wussten wir das nicht bereits als Kind? Regeln sind nur dazu da, um gebrochen zu werden.

Zahllose Menschen könnten in der Nacht heimlich an einer Verschwörung gegen den Schweinekapitalismus stricken, während sie tagsüber noch in den Banken schuften! Warum sollen wir nicht von einer besseren Welt träumen, während wir uns notgedrungen den ganz banalen Zwängen des Alltags unterordnen?

In Wirklichkeit entscheiden wir oft nicht über die Widersprüche in unserem Leben. Ganz im Gegenteil, die Welt ist bereits voll von ihnen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu entscheiden, wie wir damit umgehen. Meine tierliebe, vegane Nachbarin kann sich nach der Aufnahme des entlaufenen Katers Oscar zwischen folgenden Extremen entscheiden: Hühnerbrei aus der Dose – oder ab ins Heim. Sie kann aber auch sagen: „Lamm – das kauf‘ ich nicht.“

Der Weg des Paradoxes ist der Weg zur Wahrheit.

— Oscar Wilde (1854-1900)

Es gibt Grenzen, die wir uns selbst setzen können. Grenzen, die quasi widerspruchsfreie Zonen markieren und uns so vor dem Verrücktwerden schützen. Zum Beispiel können wir damit beginnen, andere nicht mehr für ihre Inkonsequenz zu kritisieren, während wir selbst noch bis über beide Ohren verstrickt sind. Möglicherweise macht uns das derart ertragbar, dass andere sich ein Beispiel an uns nehmen wollen.

 

 

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug eines Textes aus der dritten transform Ausgabe. Diese kannst du hier bestellen!

 

Titelbild: Mali Maeder (CC0, Pexels)

 

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