Empathie für Terroristen

Seit Sommer 2014 betreut die deutsche Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network (VPN) traumatisierte IS-Kämpfer, die aus Syrien zurückgekehrt sind. In Hessen und Berlin zeigen Sozialarbeiter den Ex-Salafisten Wege in ein neues, ziviles Leben. Laut Verfassungsschutz sind bisher über 700 Personen aus Deutschland in den „Heiligen Krieg“ aufgebrochen, überwiegend junge Menschen zwischen 18 und 25. Etwa ein Drittel ist zurückgekehrt. Stimmen werden laut, die härtere Maßnahmen gegen die Rückkehrer fordern. Dem setzt VPN etwas anderes entgegen: Empathie.

transform hat mit Thomas Mücke, dem Mitbegründer und Geschäftsführer von VPN gesprochen. Sein erklärtes Ziel: Die Jugendlichen sollen sich selbst „spüren“ lernen und somit ihre Handlungen besser reflektieren.

 

transform// Herr Mücke, Sie wollen Gewalttaten verhindern, indem Sie Extremisten Empathie entgegenbringen. Gelingt Ihnen das?

Mücke// Ich glaube, ‘Extremisten Empathie entgegenbringen’, ist der falsche Ausdruck. Es geht darum, Gesprächspartner für die Jugendlichen zu sein und Zweifel zu säen – Zweifel gegenüber dem, was sie gemacht haben. Die Jugendlichen sind ja verführt worden. Sie haben aufgehört, selber nachzudenken. Das Besondere an der extremistisch-salafistischen Szene ist ihr exklusiver Wahrheitsanspruch: Denke nicht nach, folge uns einfach. Wir versuchen deutlich zu machen: Du musst dir einen eigenen Kopf machen, eigene Entscheidungen treffen.

 

transform// Dazu müssen Sie nachvollziehen, was in denen vorgeht. Können Sie das? Können Sie nachvollziehen, dass junge Menschen nach Syrien wollen, um zu töten?

Mücke// Die Probleme, die zur Radikalisierung führen, sind vielfältig. Das können Identitätskrisen sein oder familiäre Schwierigkeiten. Wir haben oft mit Kindern aus alleinerziehenden Familien zu tun. Deren Vater-Sehnsucht wird in der Szene erfüllt, weil es charismatische Autoritäten gibt. Die Szene missbraucht Problemlagen, um Jugendliche für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Wer nach Syrien ausreist, hat nicht den Automatismus drin, unbedingt andere Menschen töten zu wollen. Der Betroffene ist eher erschrocken darüber, was er dort sieht. Schnell ist die innere Bereitschaft da, zurückzukehren. Aber vor Ort wird ihm gesagt: Dein Staat ist der IS. Der Staat, wo du herkommst, wird dich verfolgen. Er sieht sich in einer Sackgasse.

 

transform// Viele Jugendliche haben Probleme, nicht alle werden zu Mördern. Bei Ihnen klingt es, als könnten die Betroffenen selbst nichts dafür. Als seien sie nur Opfer.

Mücke// Wir haben es mit einer sehr aggressiven extremistischen Szene zu tun. Sie versteht es, Jugendliche auf emotionale Weise anzusprechen.

transform// Wie macht die Szene das konkret?

Mücke// Oft über soziale Netzwerke. Da wird hochprofessionelles Videomaterial ins Netz gestellt! Jugendliche, die etwas zum Thema Islam wissen wollen, gehen ins Internet. Sie haben vielleicht muslimische Wurzeln oder sind Deutsche, die konvertiert sind. Aber sie sind religiöse Analphabeten. So geraten sie in den Extremismus, der ihnen scheinbar erklärt, was Religion bedeutet. Nicht jeder, der nach Syrien will, fährt mit Mordabsicht hin. Aber es sind welche darunter, die tatsächlich die Intention haben, anderen Menschen schweres Leid zuzufügen, weil viel Hass in ihnen drin steckt.

 

transform// Woher kommt dieser Hass?

Mücke// Der Hass geht auf eine lange biografische Geschichte zurück. Es kann sein, dass die Jugendlichen selbst viel Gewalt erfahren haben, oder Ablehnung. Sie brauchen eine Rechtfertigung, um ihren Hass rauszulassen. Darum folgen sie einer menschenverachtenden Ideologie und tun alles, um Anhänger für ihre Sache zu finden. Von Sozialarbeit sind hochradikalisierte Menschen nicht ansprechbar. Wenn man die kriegen würde, gäbe es nur einen Ort für sie: das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag.

 

transform// Ausländische Anhänger werden selten zum Kämpfen gebraucht, sondern dienen eher als Kanonenfutter. Wissen die Jugendlichen das und sind trotzdem bereit, mitzumachen?

Mücke// Nein, die wissen gar nichts. Die kriegen alles erst mit, wenn sie in Syrien sind. Dort heißt es: Du musst dich entscheiden, ob Selbstmordanschlag oder Front, also Dschihad. Das erschreckt die auch. Deshalb gibt es viele Jugendliche, die flüchten, die aus den Lagern austreten und versuchen, die türkisch-syrische Grenze zu überschreiten – was hochgefährlich ist.

 

transform// Wie erfahren Sie von den Betroffenen?

Mücke// Im Regelfall ruft ein Angehöriger bei uns an, weil er festgestellt hat, dass sein Kind ausgereist ist. Die Familie fährt ins Grenzgebiet. Wir betreuen sie telefonisch. Wenn es die Möglichkeit gibt, das Kind zurückzuholen, bereiten wir die Familie darauf vor, auch auf Ermittlungsverfahren. Sobald der junge Mensch wieder in Deutschland ist, wird er von uns engmaschig betreut.

 

transform// Wie sieht die Betreuung aus?

Mücke// Es geht um traumatisierte Jugendliche, denen gesagt worden ist, dass sie in der Gesellschaft keine Chance haben. Entsprechend misstrauisch sind sie. Deshalb sprechen unsere muslimischen Mitarbeiter sie als Erste an. Sie bringen Zweifel rein, ob das, was die Betroffenen getan haben, mit ihrer Religion vereinbar ist. Im weiteren Verlauf wird geschaut: Was waren die Probleme, die dazu geführt haben, dass die Szene attraktiv wurde? Wo sind die Knackpunkte? Die müssen wir wieder einigermaßen hinkriegen. Ein Jugendlicher, der ausgereist ist, hat sich über seine Zukunft hier in diesem Land keine Gedanken mehr gemacht.

 

transform// Solchen Gesprächen geht Sympathie voraus, um das nötige Vertrauen aufzubauen. Wie sammeln Sie Sympathie-Punkte?

Mücke// Jeder Betroffene ist erst misstrauisch. Wenn ich die Eltern in der Wohnung besuche, setzt er sich nicht sofort auf die Couch und plaudert. Ich muss ihm Zeit lassen. Es wird auch nie einen Jugendlichen geben, der im Beratungsbüro anklopft und sagt: Ich habe ein Problem. Kann ich mal mit euch reden? Sondern es ist eine sehr stark aufsuchende Tätigkeit. Da haben es die muslimischen Mitarbeiter leichter. Ich bin ja Atheist.

 

transform// Wie bringen Sie die Jugendlichen dennoch dazu, Ihnen zuzuhören?

Mücke// Ich bin seit 35 Jahren in dem Beruf. Das lernt man. Man lernt, zu den Kindern zu gehen, Gespräche zu führen. Dabei geht es nicht um „ich mag dich“, sondern um: „ich interessiere mich für dich“. Ich selber habe zwar Kenntnisse des Islams, aber er ist nicht meine Religion. Das mache ich deutlich. Der Jugendliche wundert sich: Geht das? Wie kann ein Muslim mit einem Atheisten zusammenarbeiten? Er fragt: Ich dachte immer, das sind Feinde? Ich frage zurück: Wer hat dir das gesagt? Dann reden wir über die Geschichte des Propheten, über die Akzeptanz der Religionen untereinander. Er öffnet sich. Er wird neugierig und möchte mehr erfahren.

 

transform// Was ist mit denen, die noch keine negativen Erfahrungen mit dem IS gemacht haben? Woher wissen Sie, ob die ihre Kriegspläne wirklich aufgeben?

Mücke// Ich kann nicht zu hundert Prozent in einen Menschen reinschauen. Das Risiko gehört zur Sozialarbeit. Wenn bei unserer Arbeit was schiefgeht, kann es Menschen das Leben kosten.

 

transform// Haben Sie manchmal Angst?

Mücke// Man weiß nicht, mit welchen Menschen man es zu tun hat, wie die plötzlich ticken. Bisher ist keiner unserer Probanden nach Syrien ausgereist. Wir hatten auch mit keinem Rückkehrer zu tun, von dem wir sagen: Der ist wieder völlig in die Szene abgerutscht. Und nicht jeder, der aus Syrien kommt, ist ein Fall für die Pädagogik. Die, die systematisch rekrutieren und den Mord an anderen Menschen planen, gehören nach Den Haag– alle anderen nicht

 

transform// Zusammenfassend: Was macht einen Menschen zum Mörder? Und wieviel kann Empathie dagegen ausrichten?

Mücke// Eine schwierige Frage. Empathie bedeutet immer, dass der Mensch auch zu sich selber Empathie entwickelt.

 

transform// Er muss sich selbst mögen?

Mücke// Er muss sich selber spüren. Nur so kann er entscheiden: Was ist richtig, was falsch? Damit Menschen sich verändern, braucht es Empathie. Menschen verändern sich nur durch Beziehungen, gerade junge Menschen. Die können keine Beziehungsdynamik aufbauen, wenn sie nicht empathisch gegenüber sich selber sind. Mörder sind gefühlskalte Menschen. Die haben den Kontakt zu ihrer eigenen Gefühlswelt abgebrochen. Empathische Menschen können nicht töten.

 

transform// Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Text und Illustration: Maria Dittmann für transform

 

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