„Buen Vivir”, das gute Leben aus Südamerika

Buen Vivir”, oder in der Quechua-Sprache „Sumak Kawsay”, heißt wörtlich übersetzt schlicht gutes Leben. Das Konzept dahinter ist jedoch komplexer als man auf den ersten Blick vermutet. Es ist die Sammelbezeichnung für den Wertehorizont indigener Völker des Anden- und Amazonasraums in Südamerika. Es impliziert die Wertschätzung immaterieller Güter, ist streng auf gemeinschaftsorientiertes Handeln ausgerichtet und sieht die Natur als ein zu schützendes Subjekt. Damit stellt es einen klaren Gegenpol zu westlichen Wohlstandsmodellen und Entwicklungszielen dar.

Ecuador hat die Prinzipien des „Buen Vivir“ 2008 in seine Verfassung aufgenommen, was einen historischen Schritt darstellte. Die Soziologin Natalia Sierra (YouTube Debatte, spanisch) sieht im „Buen Vivir“ eine Alternativbewegung zum Marxismus, der so in agrarisch geprägten Regionen nicht anzuwenden sei. Sie geht gar so weit, die industrielle Entwicklung ihres Landes Ecuador komplett infrage zu stellen. Sierra ist linke Regierungsgegnerin und begleitet indigene Bewegungen in Ecuador bereits seit den 80er Jahren. Wir treffen sie zum Gespräch in ihrem Büro der Universidad Catolica in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Wir möchten von ihr wissen, was für sie das „Buen Vivir“ darstellt, wie es ihr Land verändert hat und was weltweite Postwachstumsbewegungen davon ableiten könnten bzw. sollten.

Transform Magazin: Natalia Sierra, seit einigen Jahren hat das Thema „Buen Vivir“ oder „Sumak Kawsay“ in politische und soziale Diskurse in Südamerika wie auch in Europa Einzug gefunden. Sie leben und lehren in einem Land, in dem die Diskussion darüber fortgeschritten scheint.

Welches ist Ihre Definition des Begriffs „Buen Vivir“?

Natalia Sierra: „Buen Vivir“ ist die offizielle Übersetzung, die man für „Sumak Kawsay“ gewählt hat. Beim „Buen Vivir“ funktionieren jedoch die westlichen Begrifflichkeiten Fortschritt, Entwicklung und Wirtschaftswachstum nicht. Daher sollte es auch nicht übersetzt werden. Die annähernde beste Übersetzung wäre „vollkommenes Leben“. Es ist Teil der Wiedererkennung der Existenz des „Menschseins“ innerhalb eines gemeinschaftlichen Rahmens. Dies zeigt sich in der Existenzform bäuerlicher Gemeinschaften, die nach vier Prinzipien funktionieren: Solidarität, Kollaboration, Kooperation und dem Prinzip der Reziprozität. Das letztere ist das entscheidende Fundament. Reziprozität heißt nicht, dass alles maximal strukturiert sein muss, denn es wendet sich eben fundamental gegen den Merkantilismus. Hier wird eine Ökonomie betrieben, in der Waren ständig zirkulieren und keine Akkumulation gestattet wird. Die Gemeinschaft hat außerdem ein anderes Verhältnis zur Natur. Es ist ein Verhältnis, das die Unantastbarkeit, die Heiligkeit der Natur skizziert. Diese Beziehung setzt voraus, dass die Produktionsformen abweichend sind, dass sie nicht gewaltsam sind im Bezug auf die Natur.

Können wir lernen von den Indigenen?

TM: In Europa ist eine Diskussion entstanden, die nach Alternativen zum Wirtschaftswachstum sucht. Es wird das Streben nach Reichtum und materiellem Wohlstand kritisiert. Des Weiteren scheinen wir an die Grenzen der Rohstoffvorräte zu gelangen. Publikationen von Alberto Acosta oder Eduardo Gudynas zeigen ähnliche Denkstrukturen auf, wenn sie vom „Buen Vivir“ schreiben. Sollten wir Bräuche und Wertevorstellungen der indigenen Völker auf Europa übertragen?

Sierra: Die „alten“ Völker tragen Alternativen für den ganzen Planeten mit sich. Über eben diese Dinge denken wir nach. Wir waren/sind Völker, die ein ungefährliches und nicht aggressives Wachstum gelebt haben und keine „Wilderei“. Das erfüllte Leben dieser Völker liegt nicht im Konsum.

TM: Reden wir da von anderem Reichtum?

Sierra: In unserer Gemeinschaft ist die Qualität und die Tiefgründigkeit der menschlichen Beziehungen der Inbegriff von Reichtum. Das heißt, dass es hier um konkrete und nicht um abstrakte Bedürfnisse geht. Wir sehen uns als konkrete Subjekte und wir setzen den abstrakten Bedürfnissen, die uns das Kapital auferlegt, Grenzen. Das ist der Unterschied zwischen dem konkreten Menschen und dem individualisierten, abstrakten Konsumenten.

TM: In Europa sucht man nach Alternativen, um das Zusammenleben in der Gesellschaft zu verbessern. Aktivisten und Wissenschaftler sehen diese Alternativen jedoch häufig nicht innerhalb des Kapitalismus oder des Neoliberalismus. Die Bewegung stellt dort auch lediglich eine Subkultur da. In Ecuador hingegen hat es das „Buen Vivir“ bereits in die Verfassung geschafft. Wie lief dieser Prozess ab?

Sierra: Grundsätzlich ist das „Sumak Kawsay“ in der Kultur der Ecuadorianer verwurzelt. Es ist nicht einfach nur ein Konzept oder eine Theoretisierung. Die Verfassung von 2008 wurde durch eine sehr breite Beteiligung von sozialen Bewegungen geschaffen. Es haben die indigenen Organisationen partizipiert, es waren die Gewerkschaften, die Frauenbewegung, die Umweltbewegung dabei. Es ging bis zur LGBTI-Bewegung. Die Indigenen erreichten mit dieser Verfassung zwei fundamentale Ziele: die Deklaration des Staates als plurinationaler Staat und den Einzug der Prinzipien des „Buen Vivir“. Diese Punkte müssen zusammen betrachtet werden, da der einfache Nationalstaat diese Prinzipien nicht gestattet. Der Nationalstaat konzentriert seine Politik auf nationale, abstrakte Interessen. Diese Interessen leugnen die Weltanschauungen und alternativen Lebensformen der Gemeinschaften, Dörfer und „Nationalitäten“.

Warum zieht es Ecuadorianer weiterhin in den Westen?

TM: Es scheint, als ob in Ecuador wie auch im Großteil Lateinamerikas weiterhin der Wunsch vorherrscht, nach Europa oder in die USA zu emigrieren. Die Menschen möchten sich finanziell besser stellen und in eine „bessere“ Gesellschaft gelangen. Wie sehen Sie die Möglichkeiten für einen Paradigmenwechsel bei diesem Thema? Oder anders gefragt: Wie kommuniziert man das „Buen Vivir“ einer breiten Öffentlichkeit und eben nicht nur intellektuellen und indigenen Kreisen?

Sierra: Ich persönlich empfinde, dass der zentrale Kampf um gesellschaftliche Transformation ein ideologischer Kampf ist. Die traditionelle Linke hat, meines Erachtens, diesen Kampf beiseitegeschoben. Wenn es keinen Wechsel an der ideologischen Basis der Bevölkerung gibt, von der aus sie ihre Welt betrachtet, sie reflektiert, von der aus sie ihre eigene Identität bildet, kann dieser Wechsel keine Wirklichkeit werden.

Deshalb hat man in den 90er Jahren angefangen, darüber nachzudenken. Wir können einen anderen Weg gehen! Wir müssen zum Beispiel den Grundbegriff der Bildung, welche eine kolonialistische Bildung ist, ändern. Mit der Bildung können wir unser vielfältiges Wissen transportieren. Dort muss die „Buen Vivir“-Sache Einzug erhalten. Es geht um Vielfältigkeit statt Einfältigkeit. Das westliche Wissen ist auch Teil davon, jedoch nicht das einzig wahre. Es geht außerdem darum, den verschiedenen Regionen mehr Macht zuzugestehen. Dadurch wächst die regionale Gesellschaft und damit auch die gesellschaftliche Organisation bis hin zur Selbstverwaltung. Wenn wir die Regionen, die regionalen und dörflichen Gemeinschaften stärken, stärken wir das „Buen Vivir“.

TM: In diesen Diskursen werden die Begriffe Entwicklung, Wohlstand und Fortschritt radikal hinterfragt. Alberto Acosta spricht von der „Krise der Entwicklung“. Er sieht den Begriff lediglich westlich definiert. Was denken Sie, wenn Sie die genannten Begriffe hören und dabei an Ihr Land, Ihre Region denken?

Sierra: Ich denke, es gibt Begriffe, es gibt Termini, die so viel historische Last mit sich tragen, dass man sie nicht bekämpfen kann. Der Fortschritt ist Teil einer Anschauung des Menschen, die auf einer dauerhaften Instrumentalisierung der Natur beruht. Dies ist der prinzipielle Inhalt des Begriffs Fortschritt. Umso mehr wir die Natur für unsere produktiven Kräfte missbrauchen, desto „fortgeschrittener“ sind wir. Dies schließt eine Abkehr von der Natur als solche ein. Sie wird manipuliert. Diese „Entwicklung“ verwundet und der Fortschritt ist komplett an wirtschaftliches Wachstum gebunden.

Die Rolle der Natur

TM: Wenn der Mensch sich von der Natur entfernt, entfernt er sich dann von sich selbst?

Sierra: Das „Menschsein“ im westlich kapitalistischen Sinne etabliert ein absolutes, dominantes und diktatorisches Verhältnis zur Natur, was die Technik betrifft. Und es geht nicht nur darum, das technische Verhältnis zur Natur zu ändern, es muss auch auf die ethische und ästhetische Verbindung Bezug genommen werden. Die Verbindung zur Natur wird keine gewaltsame mehr sein, wenn die Werte unserer indigenen Völker durchdringen. Die Debatte um Menschlichkeit wird nicht vorankommen, wenn das Verhältnis zur Natur nicht thematisiert wird. Die beiden sind fest miteinander verbunden.

TM: Wir leben in einer globalisierten Welt. Es scheint, als wird unser Planet von den Interessen internationaler Konzerne und der neoliberalen Politik regiert. Welches Vermögen hat da ein Land wie Ecuador, um alternative Ideen ins Spiel zu bringen? Oder sind es wir, der „globale Norden“, die diesen Wechsel anführen müssen?

Sierra: So wie Ecuador von den Wurzeln her eine andere Zivilisation in Betracht zieht, senden wir wenigstens Störsignale an die dominante Ideologie. Es ist auch schlichtweg nicht mehr möglich, im Kapitalismus zu leben. Er stellt eine Gefahr für das menschliche Leben dar. Die Erfahrungen der Zapatisten (revolutionäre Bewegung im mexikanischen Bundesstaat Chiapas, d. Red.) und der Bolivianer zeigen uns, dass es da Möglichkeiten gibt. Ich denke, die neuen Kämpfe verschiedenster Gesellschaften sind mehr als wirtschaftlicher Natur. Es geht um eine Sinnsuche.

TM: Von wo aus wird dieser Kampf geführt? Im politischen Rahmen oder an der Wurzel, von unten?

Sierra: Nach meiner Erfahrung hier in Ecuador muss ich feststellen, dass solche Dinge niemals von oben gemacht werden. Mit dem, was hier in der letzten Zeit geschehen ist, glaube ich es noch weniger. Raul Zibechi (uruguayischer Schriftsteller und Intellektueller, d. Red.) sagte mal: In den schwierigsten Momenten einer Gesellschaft muss man die Dinge tief greifend, von unten anpacken.

Eine trockene Pflanze rettet man, indem man sie an der Wurzel nimmt. Dem Menschen wohnt eine doppelte Widersprüchlichkeit inne. Eine Seite ist das Bedürfnis nach Einsamkeit, der Einsiedler, auf der anderen Seite ist er jedoch ständig auf der Suche nach Allianzen. Wir befinden uns an einem Punkt, wo das Einsiedlerische, Individuelle vom Kapitalismus befördert wird. Er nimmt dem Menschen die Willenskraft, mit anderen Bündnisse einzugehen. Dies muss von unten bekämpft werden.

“Es ist nichts vorangekommen.”

TM: Wie bereits angesprochen fanden die Prinzipien des „Buen Vivir“ 2008 Einzug in die Verfassung. In Artikel 283 heißt es unter anderem: „Das wirtschaftliche System ist sozial und solidarisch und hat als Ziel die Produktion und Reproduktion von materiellen und immateriellen Werten, die das „Buen Vivir“ in Harmonie mit der Natur ermöglichen.“ Wie ist dieser Prozess die vergangenen Jahre vorangekommen?

Sierra: Es ist nichts vorangekommen. Es lief bis zur Realisierung der Verfassung. Danach wechselte die Regierung die Richtung von der politischen Linken zur Rechten. Die Regierung hat sich nicht von den Logiken der kapitalistischen Köpfe und der Kapitalakkumulation befreien können. Man hat sich in einer Zeit des immer tiefer greifenden Kapitalismus von diesem nicht lösen können. Man hat den Abbau von Bodenschätzen verstärkt. Man hat die Grenzen für Erdölabbau erweitert und man hat den Weg für neue Minen freigemacht. Man lässt die bäuerlichen Wirtschaftsformen durch große Agrarkonzerne zerstören.

Wir hatten zum Beispiel nie Versicherungen, das entspricht nicht unserer Kultur. Die Regierung hat uns diese Kultur auferlegt und das ist ein Riesengeschäft für transnationale Versicherungskonzerne. Dies ist der Grund, warum Mitglieder indigener Gemeinschaften seit geraumer Zeit wieder unterjocht, verfolgt und eingesperrt werden. Denn sie wehren sich wieder gegen die politische Führung. Unser Aktivismus diskutiert gerade über die Abkehr von industrieller Entwicklung.

TM: Die Natur ist ein zentraler Punkt des „Buen Vivir“, sie wird dort gar als Subjekt betrachtet. Hat sich dadurch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in Ihrem Land verändert?

Sierra: Ich denke nicht, dass sich durch die Verfassung da viel geändert hat. Wir hatten schon immer ein anderes Verhältnis zur Natur. Es wurde nur wieder ins Bewusstsein gerufen. Es können jetzt juristische Mittel für den Naturschutz eingesetzt werden.

 

“Entwicklung heißt Konsum”

TM: Solidarität und „radikale Demokratie“ können in überschaubaren Kreisen funktionieren, in Gemeinschaften, Dörfern, Familien. Auf nationaler und internationaler Ebene ist es schwer, da gute Beispiele zu finden. Man denke da an die Griechenlandkrise. Glauben Sie noch daran? Wie sehen Sie außerdem die Situation der Linken in Südamerika?

Sierra: Ich glaube schon, dass wir eine Dimension von Solidarität auf planetarer Ebene erreichen können, jedoch nur außerhalb des kapitalistischen Rahmens. Ich denke, der Kapitalismus hat seine Grenzen und Widersprüchlichkeiten. Vielleicht muss man ihm sein Kapital entziehen, zum Beispiel über Konsumverweigerung. Und das in den Gesellschaften, die am meisten konsumieren. Denn: Entwicklung heißt Konsum. Wir müssen anfangen, weniger zu konsumieren und weniger zu produzieren. Sich dem entgegenzustellen, wie etwa die Zapatisten das machen. Die Wertsteigerung des Kapitals liegt in der Individualisierung. Wenn wir nicht wieder zum wirklichen „Menschen“ finden, wird gar nichts passieren.

marianhummel

Das Gespräch führte Marian Hummel in Lateinamerika für transform. Marian sagt ansonsten von sich, “mit der Weltgesamtsituation unzufrieden zu sein”, studiert Politik, Soziologie sowie Philosophie und ist aktiv bei Transition Town Würzburg.

Bild: CC,flickr von Maurizio Costanzo, Ecuador, Cuenca – 2009. Parque Calderon

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