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Eigeninteresse und Gemeinwohl: ein schwieriges Verhältnis

Die Frage, wie sich die egoistische, interessegeleitete Natur des Menschen mit dem Gemeinwohl vereinbaren lasse, beschäftigte den klassischen Liberalismus und den klassischen Marxismus gleichermaßen. Das Paradigma ist die Bienenfabel Mandevilles: In einer – gleich einem Bienenstock – wohlgeordneten Gesellschaft diene das konsequente Verfolgen der eigenen Interessen letztlich dem allgemeinen Wohl; „privates Laster“ sei für den „öffentlichen Nutzen“ letztlich sogar besser als private Tugend. In den zweieinhalb Jahrhunderten kapitalistischer Wirtschaft hat sich oftmals und vielerorts gezeigt, dass dieses Denken so nicht haltbar ist.

Der marxistische Ansatz

Die klassische marxistische Theorie stellt auch in dieser Hinsicht das „vom Kopf auf die Füße“ gestellte Spiegelbild liberalen Denkens dar. Zwar zeigt sie, ganz empirisch, das Scheitern des skizzierten Modells auf, begreift ein derart positives Selbstverständnis der Gesellschaft als Ideologie der herrschenden Klasse – sieht dann aber im weltweiten Proletariat, als der revolutionären Seite des einzigen am Ende verbleibenden Klassenantagonismus, den einen weltgeschichtlichen Akteur, dessen Eigeninteresse mit dem Interesse der Menschheit als solcher identisch sei und mit dessen Sieg die Klassenherrschaft überhaupt aufhören würde. Alle Unterdrückung entspringe derselben Wirtschaftsordnung, deren revolutionärer Umsturz zugleich das unmittelbare Interesse des Proletariats und die Befreiung der Menschheit bedeute. Es gäbe nach dieser Deutung keinen Widerspruch zwischen interessegeleitetem und ‚idealistischem‘ Handeln – universale Werte würden nicht durch ein utopisches Sich‑Stemmen gegen den von kleingeistigen Interessen bestimmten Verlauf der Weltgeschichte verwirklicht, sondern ergäben sich aus deren Gesetzmäßigkeiten von selbst. Auch diese Variante der teleologischen „unsichtbaren Hand“ hat sich im Laufe der Jahre als schwierig erwiesen.

Der aktuelle Konflikt

Genau dieser Widerspruch zwischen Interesse und Ideal ist es, der auch eine gegenwärtige Konfliktlinie bestimmt: Die Entfremdung zwischen einer elitär gewordenen Linken und einer bisweilen nach rechts schielenden Arbeiterschaftdie Abwanderung starker Wählerschichten von links nach rechts spricht in dieser Hinsicht Bände.

Pegida, AfD, der Brexit und schließlich die Wahl Trumps: Linksliberale geben sich empört. Man rät amerikanischen Freunden scherzhaft zur Auswanderung, bemitleidet die jungen Briten, die sich mehrheitlich ein anderes Abstimmungsergebnis gewünscht hätten, und begreift die guten Wahlergebnisse für die AfD in ostdeutschen Bundesländern als ein Aus für die Demokratie. Witze über Trump und besorgte Hinweise auf die Jahre ab 1933 sind zum kollektiven Selbstvergewisserungsritual des Bildungsbürgertums geworden – man darf hier ebenso sicher mit Zustimmung rechnen, wie wenn man über das Wetter redet. Das hat auch paternalistische Züge: es seien die Ängste der Überforderten, die hier zum Ausdruck kommen, heißt es psychologisierend.

Hiergegen erhebt sich mit Recht Widerspruch. Der Brexit oder die Wahl Trumps, so heißt es, seien Ausdruck dessen, dass die benachteiligten Schichten das Projekt der Linken nicht mehr als das ihre begreifen könnten. Der Antifaschismus des Bürgertums sei dessen ‘Waffe’ gegen die niederen Klassen, sagt der französische Geograph Christophe Guilluy; er erlaube ihm, eine elitäre Grundhaltung und eine marktliberale wirtschaftspolitische Orientierung mit einem linken Selbstverständnis zu verbinden, als Verfechter einer offenen Gesellschaft herabzusehen auf die ungebildeten Schichten, die dieses Anliegen nicht teilten. Bewusst „ethischer“ Konsum, der auf soziale und ökologische Belange Rücksicht nimmt, sei das „Abgrenzungsmerkmal der Privilegierten und ihr Vorwand für Unterschichts-Bashing“, schreibt transform-Redakteur Jonas. Diese Hinweise sind sehr berechtigt. Wie aber sollen die programmatischen Konsequenzen aus dieser Einsicht aussehen?

 

Zurück zu den Interessen des “Kleinen Mannes”?

Die Umweltpolitik bietet ein interessantes und zugleich schwieriges Beispiel: Der amerikanische Historiker Erik Loomis fordert einen Working Class Enviromentalism. Die ökologische Bewegung, in Amerika einst entscheidend mitgetragen von Gewerkschaften, sei zum Projekt der Eliten geworden; liberale Sponsoren hätten die Bewegung veranlasst, sich mehr auf den Amazonas zu konzentrieren als auf die heimische Umwelt, und Angst um den eigenen Arbeitsplatz tue ein übriges, um die Prioritätensetzung des Arbeiters zu ändern und ihn mehr mit der umweltpolitischen Linie eines Trump konform gehen zu lassen. Demgegenüber müsse man den benachteiligten Schichten zeigen, dass ein ökologischer Umbau der Wirtschaft gerade auch ihr tägliches Leben beeinflusse: man solle die neuen Jobs betonen, die er bringe, und sich etwa auf einen Trinkwasserskandal im Land selbst fokussieren. Die Kluft zwischen den benachteiligten Wählerschichten und der elitär gewordenen Linken soll also überwunden werden, indem die letztere sich primär an den Interessen der ersteren orientiert. Das scheint einerseits ein angemessener Umgang mit dem angesprochenen Problem.

Es bedeutet aber andererseits einen Verzicht auf eine wichtige Implikation, die das Programm der Linken haben sollte: Solidarität ohne nationale oder andere Einschränkungen. Überträgt man das Vorgehen auf die Flüchtlingsfrage, wird vielleicht deutlicher, wie problematisch es ist: Es würde bedeuten, auf den, wie Guilluy sagt, klassenkämpferischen Antifaschismus zu verzichten und sich auf die Angelegenheiten des hierzulande ansässigen Kleinen Mannes zu konzentrieren. Wenn Wagenknecht und Lafontaine – gemeinhin dem linken Flügel ihrer Partei zugerechnet! – eine Obergrenze für Flüchtlingszahlen fordern und die Große Koalition damit rechts überholen, geht das in exakt diese Richtung. Eine rein an den Interessen benachteiligter Wählerschichten orientierte Reproletarisierung der Linken, wie sie Loomis vorschlägt, wäre gleichbedeutend mit ihrer Renationalisierung und ihrer Entsolidarisierung. Begrüßenswert wäre das nicht: Die Lage für Mensch und Natur ist im Amazonas bedeutend unangenehmer als in den Vereinigten Staaten, und einem syrischen Bürgerkriegsflüchtling geht es schlechter als einer ostdeutschen Rentnerin. Es wäre auch einen näheren Blick wert, ob ökonomische und ökologische Effizienz wirklich derart deckungsgleich sind, dass ein wirtschaftspolitisch motivierter Green New Deal einen Gewinn für die Umwelt bedeutet. Warum gelingt es nicht, eine übergreifende Vision zu entwickeln, die die Angelegenheiten der Benachteiligten hierzulande mit dem globaler Gerechtigkeit, Eintreten für Minderheiten aller Art und ökologischen Anliegen verbindet? Es ist eben der interessegeleitete Charakter, den menschliches Handeln oftmals hat. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“; für Ökologie und globale Gerechtigkeit kann sich eben nur interessieren, wer sich das leisten kann – und es gegebenenfalls mit dem eigenen Interesse an einer Abgrenzung nach unten verbindet. Wie ließe sich dieser Widerspruch überwinden?

Was tun?

Ein Ansatz könnte – ganz im Sinne des klassischen Marxismus – ein stärkerer Fokus auf eine kapitalismuskritische Wirtschaftspolitik sein, wie sie spätestens seit den Jahren Schröders und Blairs nicht mehr im Zentrum des moderat linken Programms steht. Auch nach dem Zerbrechen der revolutionären Großvision ist es wichtig, aufzuzeigen, dass die Interessen unterschiedlicher benachteiligter Gruppen oftmals zusammenfallen, dass sie bisweilen Opfer derselben übergreifenden Strukturen sind: Das wohlverstandene Eigeninteresse eines prekär beschäftigten Deutschen schließt Solidarität mit dem gebeutelten griechischen Sozialstaat gerade nicht aus, sondern impliziert es, weil beide Opfer desselben marktliberalen Paradigmas sind – das es zu bekämpfen gilt. Genau das scheint ein Ansatz in der Europapolitik der Linkspartei.
Gerade wenn man die Dinge im globalen Rahmen betrachtet, dürfte es aber Interessenkonflikte geben, die sich nicht in dieser Form auflösen lassen. Der Gedanke, dass Ideal und Interesse notwendig Hand in Hand gehen müssten, bewirkt doch oftmals nur die verschleiernde Verallgemeinerung der Interessen einzelner Akteure. Wichtig wäre darum zweitens eine Politik, die bewusst mehr sein will als Interessenvertretung. Hat es schon einmal eine Partei gegeben, die mit voller Absicht mit einem Programm geworben hat, das den Interessen der eigenen Wählergruppen zuwiderläuft – eben weil das Gemeinwohl das fordert? Wäre es nicht möglich, universale Werte in dieser Konsequenz zu verfechten?

 

Hannes Amberger studiert Geschichte, Philosophie und Interdisziplinäre Mittelalterstudien in Münster.

 

 

Beitragsbild: CC, flickr

Bienenbild: flickr Commons

 

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