Eine haarige Angelegenheit – Teil 1

Kurz, lang, gestuft, Undercut, Bob. Haare sortieren uns in Schubladen. Woher kommt diese immense Signalwirkung? Und was passiert, wenn die Haare plötzlich weg sind. Die Idee, dass eine Glatze eine rein ästhetische Entscheidung ist, kommt den meisten nicht.

Meine Haare kommen ab. Ganz und gar. Glatt wie eine Bowling Kugel werde ich erhobenen Hauptes in wenigen Tagen aus dem Frisörsalon spazieren. Meine Haare sollen gespendet werden für Kinder, die ihre eigenen Haare aufgrund von einer Krankheit verloren haben. Ich bin mir sicher, dass ich das tun möchte, aber ich muss gestehen, ich habe Angst. Am Ende bin ich auch nur ein Mensch. Und der Mensch fürchtet Unbekanntes. Ich hatte noch nie keine Haare, ich hatte noch nicht einmal kurze Haare. Ich möchte ehrlich sein: Der Tag ist bereits durch getaktet. Nach dem Frisör, spazieren gehen, dann Kaffee und Kuchen in einem schönen Café, abends ausgehen. Leben üben.

Was ist wichtig? Was soll uns als Menschen definieren?

Das Problem lässt sich schon in meinen ersten paar Sätzen finden: Ich habe Angst vor dem Gefühl keine Haare zu haben und ich habe das Gefühl, als müsste ich danach neu lernen mich in Gesellschaft zu bewegen. Woher kommt diese Angst? Und wieso habe ich das Gefühl, mir wird unwiderruflich ein Körperteil amputiert?

Wer kann ich sein?

Wir werden über unsere Haare definiert und auch wir selbst definieren uns über unsere Frisur. Ob nun freiwillig oder nicht, scheinbar können unsere Haare sprechen. Sie übernehmen eine wichtige soziale Funktion: Sie sortieren uns nach Schubladen. Wo gehöre ich hin? Habe ich einen Irokesen, einen Afro oder vielleicht lange Haare bis über die Hüfte? Haare stigmatisieren. Bereits als kleine Kinder lernen wir, welcher Haarschnitt sich für unser Geschlecht gehört. Ich verinnerlichte: Lange Haare. Medien reproduzieren die Stereotypen fröhlich. Sollte eine Frau in einem Film wider Erwarten kurze oder keine Haare haben, dann ist sie entweder an Krebs erkrankt, nimmt Drogen, ist lesbisch, hat psychische Probleme oder besitzt Superkräfte.

Auch eine Glatze sortiert Menschen schnell in eine bestimmte Kategorie. Sie wird zu einem Ausschlusskriterium: Wer keine Haare hat, mit dem stimmt etwas nicht. Die Idee, dass eine Glatze eine rein ästhetische Entscheidung ist, kommt den meisten nicht. „Ich dachte da kommt jetzt ein Junge rein“ musste sich kürzlich eine kurzhaarige Freundin von der Bekannten ihrer Mutter anhören. Nun lässt sie ihre Haare wachsen. Woran liegt die immense Signalwirkung, die Haare zu haben scheinen?

Wer keine Haare hat, mit dem stimmt etwas nicht.

Was Haare von den meisten anderen Körperteilen unterscheidet: Sie wachsen das ganze Leben und sie lassen sich schmerzlos und weitestgehend reversibel modifizieren. Die Menschen können sie schneiden, färben, locken, frisieren. Sie sind eines der wenigen Teile unseres Körpers, über die wir solche Macht haben können. Somit eignen sie sich als Aushängeschild. Sie werden dadurch aber gleichzeitig auch zum unmittelbaren Messstab des Selbstwertgefühls. Meine Selbstwahrnehmung scheint untrennbar mit meinen Haaren verbunden. Was passiert dann, wenn ich plötzlich die „falsche“ Rückmeldung bekomme oder meine Haare verliere? Ein Teil meiner selbst scheint verloren gegangen zu sein.

Wer will ich sein?

Seine Haare unfreiwillig zu verlieren ist keine schöne Erfahrung. Dies sollte jedoch nichts mit dem Stigma einer Glatze zu tun haben. Seine Haare zu verlieren beschneidet die Selbstbestimmung, dass ist das eigentliche Problem. Ich wünsche jedem Menschen, dass er über seinen Körper frei entscheiden kann, aber manchmal ist das leider nicht möglich. Wir als Gesellschaft können aber über die Werte, die wir von Generation zu Generation weitergeben, mitentscheiden. Und wir müssen uns fragen: Was ist wichtig? Was soll uns als Menschen definieren?

Wollen wir uns von unseren Äußerlichkeiten definieren lassen? Oder von unseren Worten, unseren Gedanken und unseren Träumen?  Wollen wir den Kindern der nächsten Generation sagen:

Das wichtigste ist wie du aussiehst, wie du wirkst.

Oder wollen wir ihnen sagen:

Was wirklich wichtig ist, ist was du denkst, sagst und tust!

Rein theoretisch weiß ich, dass ich auch ohne Haare noch immer die gleiche Person sein werde. Praktisch habe ich immer noch Angst. Ängste können aber überwunden werden und Stigmata zerbröckelt! Mit meiner Haarspende möchte ich denn Kindern ein Stück ihrer Selbstbestimmung zurückgeben. Gleichzeitig möchte ich sagen: Aber auch ohne Haare bist du ein Mensch, eine Person. Auch ohne Haare bist du wichtig. Ein schwieriger Spagat. Ich hoffe, er gelingt.

 

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