Berlin: Die Gefahr der Unmittelbarkeit

Ein LKW ist am 19.12. auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin gesteuert worden. Die Polizei hat Tote und Verletzte vermeldet. Die großen Online- und Livemedien berichteten minuten-, gar sekundengenau über die aktuellen Opferzahlen. Ein Wettlauf um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Innerhalb kürzester Zeit sind Menschen nicht nur in der ganzen Stadt, sondern deutschlandweit und auf der ganzen Welt informiert. Das beklemmende Gefühl entsteht, dass wir alle von diesem Ereignis betroffen seien.

Mein erster Gedanke: Wissen wollen, was da passiert ist.

Der zweite: Muss ich mich wirklich von dieser perfiden Spannungsspirale mitreißen lassen?

Gewalttaten: Trauriger Redaktionsalltag

Ich weiß, welche Aufregung in Redaktionen ensteht, wenn die Meldungen einer solchen Tragödie eintreffen: Nizza, München, Paris. Die Liste ist leider noch länger. Nach den Ereignissen dieses Jahres ist sind die Redakteurinnen und Redakteure bereits geübt in der grimmigen Routine einer solchen Nachrichtenlage, die das Interesse vieler weckt. So schnell es geht müssen Liveblogs erstellt und Informationen bestätigt werden. Seriöse Medienhäuser bemühen sich darum, nur geprüfte Informationen weiterzugeben. Aber es muss auch bei ihnen schnell gehen. Wer früher veröffentlicht, sichert sich die Reichweite über Google, Facebook, Twitter und die anderen Internet-Plattformen.

Das Problem der Einordnung

Schnell ist es da passiert, dass von “Terror” und “Anschlag” die Rede ist. So etwa bei der Sicherheitsabfrage auf Facebook, mit der man Freunden mitteilen kann, ob man in Sicherheit ist. Zuerst hieß es dort “Anschlag in Berlin”, später wird die Beschreibung in “Gewalttat”, dann in “Vorfall” geändert. Nutzerinnen und Nutzer hatten sich über die voreilige Einordnung beschwert. Bei einem Anschlag ist davon auszugehen, dass jemand bewusst geplant hat, die Katastrophe herbeizuführen. Bei einem Unfall wird ein Vorsatz verneint.

Auch offizielle Stellen wiesen bald darauf hin, dass es sich sowohl um einen Unfall als auch um eine Amoktat oder einen Anschlag handeln könnte. Ein Eingeständnis, dass man der Geschwindigkeit der Nachrichtenmedien nicht gewachsen ist. Die Nachricht kann schneller übermittelt werden, als sie überhaupt in ihren Details feststeht.

Lieber abschalten? (Flickr Commons: Nationaal Archief)

Wie mit Gewalttaten umgehen?

Das Bedürfnis, sich auf dem Laufenden zu halten, wenn Schreckliches passiert, ist groß. Doch bleibt die Frage, ob es uns wirklich hilft, wenn wir die Anzahl der Opfer verfolgen, wie ein Sportergebnis. Wäre es nicht besser, besonnener nur die Informationen zu erhalten, die unmittelbar sicherheitsrelevant sind? Und mit allem weiteren zu warten, bis gesicherte Informationen vorliegen? Bis wir den ersten Schock überwunden haben?

Es scheint fast so, als sei die Berichterstattung zu einem traurigen, grausamen Spannungsgenre verkommen, bei aller Vorsicht, die man guten Medien zugestehen kann. Es gibt kein Zurück hinter die Möglichkeiten der digitalen Medien. Sie stellen eine Unmittelbarkeit her, die uns in Angst versetzt. Mit Livevideos und Bildern direkt vom Ort des Vorfalls.

Die eigene Neugierde überwinden

Vielleicht besteht der Ausweg darin, sich dem Nachrichtenstrom zu entziehen, wenn man sichergestellt hat, dass keine unmittelbare Gefahr droht und man nichts weiter tun kann, um zu helfen. Das Smartphone weglegen, Radio und Fernseher aus- oder umschalten.

Geschehnisse wie die in Berlin sind furchtbar. Wir machen es nicht besser, wenn wir uns der medialen Illusion hingeben, sie passierten direkt neben uns. Die Gefahr der medialen Unmittelbarkeit ist eben, dass wir die vorhandenen Gefahren für unmittelbarer halten, als sie es sind.

 

Beitragsbild: Alex Galperin, unsplash CC0

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