Warum Bullshit erzählen so erfolgreich ist

Mein Freund aus Grundschultagen erzählt mir immer wieder von den Machenschaften der Lügenpresse, am Nachbartisch meines Lieblingscafes höre ich es auch. In der Umkleide des Fitness-Centers sagt mir jemand, dass die Rheinische Post nicht objektiv sei und überhaupt alle Zeitungen lügen würden. Es sei doch klar, wer dahinterstecke, wird zwinkernd geflüstert. Und wer? Die Antwort bleibt man mir schuldig.

Dass das Bild der „Lügenpresse“, diesem Unwort unserer Tage, sich solch einer Beliebtheit erfreut, ist bedauerlich. Er vergiftet jeden Diskurs:

  • „Flüchtlinge bringen gar keine gefährlichen Epidemien nach Deutschland, steht doch in den Zeitungen“ – „Lügenpresse!“
  • „Der VW-Skandal ist kein Ausdruck eines amerikanischen Wirtschaftskriegs, sondern ein legitimes Vorgehen gegen gesetzeswidrige Unternehmenshandlungen“ – „Lügenpresse!“
  • „Dass russische Soldaten in der Ukraine sind, ist keine NATO-Propaganda sondern ein Fakt“ „Lügenpresse!“

 

Hier findet statt, was man in der Logik einen infiniten Regress nennt. Keine Quelle ist vor dem Lügenargument sicher und muss stets mit einer neuen Quelle belegt werden, die ihrerseits natürlich auch eine Lüge sein kann. Diese Technik erfüllt einen psychohygienischen Zweck. Das Leiden der Flüchtlinge? Gelogen. Das Foto von Aylan Kurdi, dem toten Kleinkind aus Syrien am Mittelmeer-Strand? – Gestellt. Das Vermeidenwollen von Empathie in der Zeit ungeheuren (und ungeheuer öffentlichen) Leids ist womöglich der Grund für die Renaissance dieses Begriffes, den nicht nur Goebbels gerne benutzte, sondern auch die 68er-Bewegung. Denn: ich muss mich um das Leid anderer nicht sorgen, weil es das Leid eigentlich nicht gibt. Dies ist der Komfort des „Lügenpresse“-Arguments.

Für jene, die Macht anstreben und im Fokus der Medien stehen, ist der Vorwurf der Lügenpresse oder des „Media Hoax“ natürlich auch praktisch, um teflonartig sämtliche Vorwürfe an sich abperlen zu lassen. Oder, um in Wählern stille Sehnsüchte zu wecken: Es sei eine Lüge der Medien, dass Rauchen tödlich ist, behauptet Mike Pence, der designierte Vizepräsident der Vereinigen Staaten(!). Das ist erst ziemlich lustig und dann möchte man weinen.

Es sei eine Lüge der Medien, dass Rauchen tödlich ist, behauptet Mike Pence, der designierte Vizepräsident der Vereinigen Staaten.

Nicht übersehen sollte man als Konsequenz dieser Lügenpresse-Rhetorik auch die Übergriffe gegen Journalisten. Über 25 wurden 2015 allein in unserem Bundesland der Herzen Sachsen dokumentiert.

Hierbei ist es wichtig zu sehen, wie nah doch das Konzept der Lügenpresse mit dem der Verschwörung verknüpft ist. Bei genauerem Hinsehen bedingt die Idee einer Lügenpresse nämlich eine Verschwörung, denn wenn die Presse systematisch lügt, muss es ja einen gemeinsamen Plan dahinter geben. Wenn sich eine gefühlte Mehrheit nicht von der Presse vertreten sieht und eine „Meinungs-Mafia“ dahintersteckt, dann muss diese ja koordiniert die gleichen Lügen erzählen.  Ohne eine gehörige Prise Verschwörung gibt also keine konzertierte Lügenpresse.

 

Keine Lügen, oft aber Bullshit

Eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Kultur ist es, dass es soviel Bullshit gibt

Soweit, so nebulös. In der Konfrontation mit den „Lügenpresse“-Vertretern wäre es naiv, das Gegenteil zu behaupten, also von der absoluten „Wahrheitspresse“ oder „Wahrheitsöffentlichkeit“ zu reden. Das Wahrheit/Lüge-Spiel mitzumachen ist gefährlich.  Stattdessen haben wir es nämlich mit komplexen Zusammenhängen zu tun (Griechenland, Ukraine, Migration, beim Thema Rauchen – not so much), bei denen vieles unklar ist, vieles widerlegt werden kann. Dies führt dazu, dass man – obacht Schlüsselbegriff – viel Bullshit hört. Eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Kultur ist es, dass es soviel Bullshit gibt, sagt der große Harry Frankfurt, Moralphilosoph in Princeton und Pionier in Sachen Bullshit, was man im deutschen am treffendsten und am wenigsten catchy mit Hohlsprech übersetzen kann.

Beweise? Who cares!

Bullshit, Lüge, wo ist der Unterschied? Laut Frankfurt ist es unmöglich zu lügen, auch wenn man nicht nur glaubt, die Wahrheit zu kennen. Die Produktion von Bullshit aber benötigt dieses Wissen nicht. Wer bullshittet verdreht eine Aussage also nicht so wie ein Lügner, indem er gezielt falsche Aussagen über eine Wahrheit trifft.Bullshit muss nicht einmal falsch sein. Stattdessen versucht der Bullshitter eine Aussage zu machen, bei der es einfach egal ist, ob sie stimmt oder nicht. Barack Obama ist afrikanischer Islamist, Hillary Clinton gehört lebenslang ins Gefängnis, ihr Mann Bill ist ein Vergewaltiger. Beweise? Who cares!

Damit ändert er im Hintergrund heimlich die Regeln der Kommunikation, so dass der Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit irrelevant wird. Eine Lüge hingegen ist ein „Sprachspiel“, das sich an Regeln hält, indem es akkurat das Gegenteil der angenommenen Wahrheit ausdrückt. Lügen ist Ordnung, Bullshit ist eher ein chaotisches Rauschen. Bullshit produzieren geht deshalb auch viel schneller, man ist auch viel agiler.

Das gilt nicht nur für orangene US-Präsidenten, sondern auch für die Medien. Für letztere ist es einfach eine Mischung aus Unsicherheit und Denkfaulheit: Manche Journalisten versuchen statt Recherche die Meinung ihrer Chefs und Leser zu antizipieren und gefühlte Wahrheiten auszudrücken, wie die Zeit feststellt. Bei den Zeilensätzen von freien Journalisten fehlt es den meisten auch einfach an Luft zur fundierten Recherche mit allerlei Double-Checks. Man könnte meinen zum abgestimmten Lügen habe die Presse einfach keine Zeit. Zum Bullshitten schon. Denn Bullshit kann das Produkt dieser prekären Situation sein, die auch gefüttert wird von Lesern, die für Qualität nicht zu zahlen bereit sind.

Medialer Bullshit ist das Ergebnis einer Notlage, die auch gefüttert wird von Lesern, die für Qualität nicht zu zahlen bereit sind.

Es gibt keine Lügenpresse, sondern einfach nur schlechten Journalismus. Und gewisse Politiker? Die legen sich gar nicht auf ein kohärentes und doch starres Lügensystem fest, dass sie unflexibel im Geschäft der Schlagzeilen machen könnte. Entrepreneur wins, Politician loses, twitterte jemand nach der US-Wahl.

 

Vom Lügenpresse-Urteil zur Verschwörungstheorie

Nun befinden wir uns in einer Kultur, die ungeheurer Komplexität ausgesetzt ist und die schon allein deshalb für Bullshit extrem anfällig ist, wie Frankfurt feststellt. Wem dies zuviel ist, wer genug vom chaotischen Rauschen des Bullshits hat, und wer einfache Antworten sucht, geht den Weg in die Verschwörungstheorien.

Sometimes I feel so overfordert

Sometimes I feel so overfordert, wie Rainald Grebe es besingt. Wer solchen Theorien anhängt, sieht die Lügenpresse und ihre angeblichen Opfer. Wir wissen über vieles nicht Bescheid, wissen aber, dass es passiert.

 

Die Welt ist dabei nicht unbedingt komplexer geworden, sondern die Diskrepanz zwischen dem, wovon wir wissen, und dem, wovon wir meinen, Bescheid zu wissen ist rasant gewachsen. Wir haben einfach viel mehr Information über die Geschehnisse in der Welt, die wir verarbeiten und damit interpretieren müssen. Viele Soziologen wie Habermas, Beck oder Giddens, untersuchten die gesellschaftlichen Konsequenzen.  Komplexität ist Ausdruck einer solchen Informationsgesellschaft, Überforderung ein Resultat. Raubende Sektiererbanden wie Al Qaeda oder IS hat es in der Geschichte immer gegeben. Nur hat der Ratsherr in Worms davon nichts mitbekommen, sofern es ihm nicht gerade an den eigenen Leib ging. Er hatte nicht einmal Twitter! In der Informationsgesellschaft entsteht Überforderung und der Anreiz zur Flucht in die Verschwörungstheorie.

 

Die Vereinfachung, die keine ist

Was ist kritische institutionelle Analyse, was Verschwörungstheorie?

Nun gibt es Theorien, die durchaus existierende Zusammenhänge aufzeigen etwa zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Auch ist natürlich Skepsis und nicht Naivität geboten, beispielsweise wenn es um die Legitimation von Kriegen geht. Was ist kritische institutionelle Analyse, was Verschwörungstheorie? Wie einfach ist zu einfach? Eine solche Diskussion würde den Artikel sprengen, aber eine Faustregel kann uns Wilhelm von Ockham, ein Philosoph aus dem 14. Jahrhundert geben. „Ockhams Rasiermesser“ besagt, dass die Theorie bevorzugt werden sollte, die möglichst wenige Variablen und Hypothesen erhält und aus der der zu erklärende Sachverhalt möglichst klar und logisch folgt. Ockham rasiert also alle Theorien weg, die nicht maximal sparsam sind.

Verschwörungstheorien sind also nur auf den ersten Blick vereinfachend.

Verschwörungstheorien stellen bei genauerem Hinsehen aber das Gegenteil von „Ockhams Rasiermesser“ dar. Hier werden viel kompliziertere Hypothesen getroffen, die viel mehr Annahmen benötigen. Verschwörungstheorien sind also nur auf den ersten Blick vereinfachend. Sie bieten eine große vereinfachte Story an, aber verlangen unter Hand ein große Menge an Annahmen. Um Einwände umgehen zu können blähen sich diese Theorien immer mehr auf – bis am Ende alles Teil der Verschwörung ist.

Ein Beispiel: Die herkömmliche Theorie zur Mondlandung benötigt die Annahmen, dass es technisch und wirtschaftlich möglich ist auf den Mond zu fliegen und die Aufnahmen echt sind. Die Verschwörungstheorie argumentiert dagegen meistens, dass nur ein Filmteam und wenige Astronauten (-Darsteller) beteiligt waren. Tatsächlich sind in dem Megaprojekt nachweisbar 250 000 Menschen beteiligt gewesen. Man braucht also die Hilfsannahme, dass diese entweder alle eingeweiht waren oder es diese Menschen alle nicht gibt und der Nachweis falsch ist.

Die Beobachtung einer riesigen Rakete und die Erklärung wohin diese geflogen ist, muss auch irgendwie erklärt werden. Dazu gibt es zahlreiche Staaten, die entsprechende Radar und Funksignale erhalten haben. Die müssen irgendwie auch zum Stillhalten gezwungen werden (inklusive der Soviets übrigens). Und dann hat man eigentlich schon die gesamte Welt in der Verschwörung untergebracht. Mit Ockham rasiert man solche Theorien gelassen weg. Dabei behält man gleichzeitig die Möglichkeit zur kritischen (aber adäquaten) Theorie. Denn kritische Analysen mit plausiblen Annahmen sind so leichter von Pseudo-Theorien zu trennen, die eigentlich verkomplizierend sind.

So verhindert man, dass Verschwörungstheoretiker der „neuen Friedensbewegung“ vernünftige und kritische Denker in Verruf bringen und jene mit dem Vorwurf der Lügenpresse, Menschen, die Medien kritisch beobachten, wie ihresgleichen aussehen lassen.

 

Je komplexer das Thema, desto mehr Bullshit

Zurück zur Lügenpresse: Wer lügt, muss die Wahrheit wissen. Den Begriff „Wahrheit“ sollten wir in einer Informationsgesellschaft wie der unseren aber sparsam verwenden. Wir haben zu viel Information und zu wenig belastbare Interpretation. Hier blüht der Acker für Bullshit, der rhetorischen Nebelbombe zwischen Wahrheit und Lüge.

Beim Bullshitten hecheln die Informationen einer bestimmten Lesart hinterher, mit der sie nicht Schritt halten können. Weil man einfach wild drauf los behauptet oder wild Informationen herausfiltert. Man spekuliert und nichts Genaues weiß man nicht. Oft geschieht dies innerhalb eines bestimmten Weltbildes. Man macht es sich leicht, indem man nicht außerhalb seiner Annahmen denkt. Es ist letztendlich eine Frage der journalistischen Qualität.

Anhänger von Lügenpresse-Ideen und Verschwörungstheorien haben hingegen gemeinsam, dass sie hinter all diesem Bullshit eine Systematik sehen. Es gibt sie nicht. In Wirklichkeit folgt die Presse keinem politisch angeordneten Lügensystem, keinem manipulativen Masterplan, und die Öffentlichkeit ist auch nicht hypnotisiert. Stattdessen kämpfen wir nur mit einem suboptimalen Verhältnis von Informationen und Gehirnzellen.

Die große Weltverschwörung fällt aus. Es gibt einfach nur eine riesen Menge Bullshit als Ausdruck von oft widersprüchlicher Informationsflut und dem menschlichen Drang den Sinn dahinter zu verstehen. Damit umzugehen ist verdammt anstrengend, aber niemand und keine Verschwörungstheorie kann uns diese Arbeit abnehmen. Gegen Verschwörungstheorien ist schwer etwas auszurichten, sind sie doch praktisch wie eine moderne Sitzgruppe: Man macht es sich bequem, kann die Beine hochlegen, zum Fenster hinaus blinzeln oder in den Fernseher hinein und kann die Sitz-Elemente bei Bedarf beliebig umgruppieren.

Beitragsbild: @Oscar Keys unsplash.com CC Zero

 

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