Twitter wird 10 – ein Grund zu feiern?

„In der Kürze liegt die Würze“, sagt der Volksmund und meint damit, dass eine kurze und knappe Formulierung eingängiger und besser verständlich ist, als ausufernde Erklärungen. Das hat seine Berechtigung, aber nur wenn auch hin und wieder Raum bleibt, um komplexe Sachverhalte in ihrer Tiefe darstellen zu können. Dort können dann Argumente und Fakten ausgetauscht und somit Missverständnisse vermieden werden.

In der Welt von Twitter ist das nicht vorgesehen. Der Kurznachrichtendienst, der heute seinen zehnten Geburtstag feiert, hat die Kommunikation auf erschreckende 140 Zeichen eingedampft. Unternehmerisch ist das Modell eine Erfolgsstory. Für den konstruktiven Dialog ist Twitter die Hölle.

Als Twitter-Gründer Jack Dorsey am 21. März 2006 schrieb „just setting up my twttr“ („richte gerade mein twttr ein“), wurde nicht nur eine Informationsmaschine aus der Taufe gehoben, die Nachrichten verbreitet und Werbeeinnahmen generiert, sondern auch eine Art der Kommunikation, deren Wert kaum zweifelhafter sein kann.

Die nonverbale Kommunikation aus Mimik, Gestik und Körperhaltung, die einen gewichtigen Einfluss darauf hat, wie man von seinen Mitmenschen wahrgenommen wird, wurde erst durch das Telefon, dann durch E-Mail und Short Message in die Bedeutungslosigkeit geschickt. Auf Twitter verschwindet sie hinter einem Avatar.

Schlagzeilen, Werbung, Geld

Im Sumpf vermeintlicher Wichtigkeit

Das wird auch nicht dadurch gemildert, dass persönliche Erlebnisse, Meinungsfetzen oder mehr oder weniger wichtige Nachrichten Verbreitung finden, deren Bedeutsamkeit durch Bilder, Videos oder GIFs betont wird. Zeitungen, Fernsehsender, Agenturen und Magazine streuen Schlagzeilen und stochern mit Hilfe der Worte Eil, Eilt oder Eilmeldung im Sumpf vermeintlicher Wichtigkeit. Natürlich gibt es Geschehnisse, die man unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte. Doch dafür reicht eine Schlagzeile nicht aus. Es bedarf der Vertiefung, die man – hoffentlich – in den Artikeln findet. Die Eil-Meldungen taugen als Up-Sell, um potenzielle Leserinnen und Leser einzusammeln. Und darum geht es: Werben, Kunden gewinnen, Verkaufen, Geld machen.

“In einer vernetzten Gesellschaft können sich Menschen nicht begegnen.”

Kommunikation, das Wechselspiel zwischen Sender und Empfänger, spielt keine Rolle, auch wenn man sich dies gerne einreden mag. “In einer vernetzten Gesellschaft können sich Menschen nicht begegnen.” Diese Aussage des Neurobiologen Gerald Hüther beschreibt, was auf Twitter zum Programm gehört. Menschen, Medien und Organisationen sind vernetzt, und übergießen sich mit einem schier endlosen Strom aus Informationen und noch mehr Belanglosigkeiten, ohne sich zu begegnen. Etwa 500 Milliarden Tweets wurden mittlerweile in die digitale Welt geschickt. Wie viele davon wichtige Informationen enthalten, kann man nur erahnen.

Wir im Meer der Informationen – und ein großer Teil davon ist auch noch Müll

Was aber unstrittig ist, ist die ständige Überlastung des Gehirns. Immer neue Meldungen und immer neue Wichtigkeiten, reduzieren die Fokussierung auf Wesentliches und verkürzen die Konzentrationsphasen erheblich. Der Hirnforscher Martin Korte sprach im Zusammenhang mit der Nutzung von digitalen Medien von einer Sucht nach “schneller Befriedigung von Bedürfnissen“. Genauauf diesem Mechanismus basieren Modelle wie Twitter.

das befriedigende Gefühl von Aufmerksamkeit

Die Entprivatisierung der Privatsphäre scheint als Preis nicht zu hoch, um für den Bruchteil von Sekunden die Konzentration möglichst vieler Menschen auf sich zu ziehen. Immerhin winkt als Belohnung ein ReTweet, ein Herzchen oder gar die Favorisierung des Tweets, was das befriedigende Gefühl von Aufmerksamkeit auslöst. Dabei erinnert diese Interaktion mehr an einen Deal zwischen Exhibitionisten, die den Mantel öffnen, und Voyeuren, die lüstern gaffen.

Neben kürzesten Beschreibungen des eigenen Alltags, sind Selfies im individuellen Social-Media-Portfolio ein Must-have. Die Schnappschüsse, aufgenommen während des Kauvorgangs im Fast-Food-Restaurant, beim intimen Planschen in der Badewanne oder beim zerknautschten Blick in den WC-Spiegel, werden von den einen geteilt und von den anderen abgefeiert. Diese Formen extrinsischer Motivation wirken im vernetzten System wie eine Benzinverbrennung im Ottomotor: Es entsteht Antriebsenergie und die Bereitschaft zur Wiederholung.

War in den 1990er Jahren die Vernetzungsdichte mit dem Aufbau neuer Kontakte und für den Austausch von Informationen treibende Kraft im Internet, nahm im neuen Jahrtausend die Bereitschaft sprunghaft zu, sich selbst im Netz einzubringen. Der Zukunftsforscher Peter Kruse skizzierte einen Wandel vom Zugangs-Boom zum Beteiligungs-Boom: Dabei sein. Mitmachen. Sich einbringen. Wichtig sein.

Die Wichtigkeit wird über statistische Werte gemessen. Wie viele Follower hat der Account? Wie häufig wurden Tweets geteilt? Gab es Kommentare? Streng genommen treibt ein infamer Imperativ die Nutzer von Twitter an. Verstärkend wirken Meldungen über neue Twitter-Rekorde. “Love” ist einer der am häufigsten mit einem Hashtag, dem Raute-Zeichen, versehene Begriff. Den Trend darf man nicht verpassen: Ein Tweet mit #love ist Pflicht. Während des Halbfinalspiels der Fußball-WM 2014 zwischen Deutschland und Brasilien wurde mit 35,6 Millionen Tweets ein Rekord aufgestellt. Kein Mensch wird jemals alle gelesen haben. 2015 sollen weltweit monatlich 320 Millionen Nutzer der Twitter-Gemeinde aktiv gewesen sein. Schade, dass man niemals alle kennenlernen wird.

Was hat also der Einzelne davon? Wenig. Der Nutzer, der sich durch seine Aktivität entblößt, ist lediglich der Rohstoff der Digitalwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Das Unternehmen Twitter profitiert finanziell, sofern der anfallende Content den Traffic bindet, der sich die kostenpflichtige Werbung anschaut, die auf der Plattform buchbar ist. Die Qualität der Inhalte ist dabei nicht relevant, sonst wäre der Einsatz von Bots schon lange unterbunden, die nichts weiter tun, als bestehende Inhalte automatisch zu retweeten oder sonst wie mitzuzwitschern. Und ob die Nutzer hinter den Profilen real sind oder nicht, ist auch völlig unerheblich. 2014 soll jedes zwölfte Twitter-Profil ein Bot gewesen sein. So vermischen sich Fiktion und Wirklichkeit.

Der Mittelfinger von Yanis Varoufakis & mehr: Twitter macht Fakes möglich

Auf diesem Nährboden verbreiten sich Falschmeldungen und Halbwahrheiten genauso schnell wie wichtige Informationen, die jeder zur Kenntnis nehmen sollte. Nimmt man dieses System ernst, opfert der kritische Betrachter kostbare Lebenszeit, um sich konsequent durch einen Berg sinnloser Informationen zu wühlen. Ohnehin findet in dem sozialen Netzwerk Twitter keine bedeutsame öffentliche Meinung ihren Widerhall, sondern lediglich verkürzte Meinungsäußerungen.

Jetzt ist Twitter zwar nicht Facebook, doch Parallelen sind unübersehbar. Die Forscher Fabio Sabatini und Francesco Sarracino kamen bei einer Studie über Facebook und andere Netzwerke, bei der sie die Angaben von 50.000 italienischen Bürgern auswerteten, zu dem Ergebnis, dass Online-Networking positiv für das subjektive Wohlbefinden sein kann, wenn es zu realen Kontakten kommt. Allerdings würde das Vertrauen in andere Menschen sinken. Die Wirkung auf das individuelle Wohlbefinden wäre insgesamt signifikant negativ.

Das hat Gründe. Außerhalb der Netzwerke suchen sich Menschen sehr gezielt ihre Gesprächspartner aus, mit denen sie über ethische, politische oder moralische Themen diskutieren oder über Diäten, Autos oder die letzte Shopping-Tour. Eine solche Auswahl ist auf Twitter so gut wie ausgeschlossen. Man wird verfolgt oder verfolgt selbst, in der Hoffnung, dass es sich inhaltlich lohnt. Als Rettungsschirm beleiben Blockierungsfunktionen, mit denen man sich unangenehme Menschen vom Halse hält, mit denen man einfach nicht reden oder schreiben kann beziehungsweise mit denen man sich nicht abgeben will.

Bereits 2013 wurde durch Wissenschaftler der Technischen Universität Darmstadt und der Humboldt-Universität Berlin auf eine Neidspirale hingewiesen, in der sich Nutzer von Facebook schneller wiederfinden, als ihnen lieb sein kann. Positive Nachrichten der „Facebook-Freunde“ rufen negative Gefühle und Neid hervor. Als Kompensation käme es zu einer Selbstpräsentation. Diese kann im Extremfall zur Erfindung der eigenen Lebenswelt führen. Die eigene Übersteigerung löst bei anderen wieder Neidgefühle aus. Solche Übersteigerungen finden sich auch auf Twitter: Die Menschen machen sich besser, interessanter und glücklicher als sie in Wahrheit sind.

Folgt man den Ergebnissen von Sabatini und Sarracino, scheint es nur einen Ausweg zu geben, um sich der negativen Flut zu entziehen: Raus aus den sozialen Netzwerken und hinein in reale Diskussionsrunden und Austausch Face-to-Face. Dort kann sich niemand hinter einem Nickname verstecken, sondern muss offen seine Meinung vertreten und Lösungen anbieten. Diese Form der Begegnung schafft menschliches Miteinander.

Papst Franziskus wäre für diesen Appell ein guter Botschafter. Doch der Pontifex schlägt aktuell andere Wege ein, wie er in einem Tweet verkündete: “Ich beginne einen neuen Weg, auf Instagram, um mit euch den Weg der Barmherzigkeit und der Zärtlichkeit Gottes zu gehen.” Na dann. Willkommen in der Welt der Selfies.

 

papst tweet 19032016


sosna-300x300Autor Gunther warf sich mit Begeisterung in die New Economy, brannte für den Journalismus und rotierte in Werbung und PR. Nach erfolgreicher Entschleunigung tritt er für eine Gesellschaft der Potentialentfaltung ein.

 

Beitragsbild: Pixabay, CC

Newsletter