Die unwiderstehliche Alles-ist-möglich-Mentalität

Wenn ich an Rostock denke, höre ich Tango. Meine Füße fangen an zu zucken. Die Bandoneon-Klänge vermischen sich mit Gitarren-Grooves, mit melancholischer Lyrik und Blitzlichtgewitter. In diesen Momenten erscheint mir alles möglich, das ganz große Glück. Rostock?, werden die Leser zweifeln. Das ist doch dieses verschlafene Städtchen, wo sie den ganzen Tag Matjesbrötchen essen. Auch, ja, und Tango tanzen, halte ich dagegen, und leben. Und wie! Zumindest einer: Reinhard Singer. Singer ist Kunsthandwerker, auch. Zuallererst ist er Lebenskünstler, ein Tausendsassa, dem der Schaffensdrang ebenso heilig ist wie der nach Freiheit. Er ist es, dem ich dieses Kopfkonzert zu verdanken habe.

Es beginnt damit, dass ich eine Auszeit brauche. Mein Plan: Seeluft atmen, Tage in Cafés verbummeln, ins Theater gehen, schreiben, sowas eben. Um nicht der Einsamkeit anheim zu fallen, buche ich ein privates Gästezimmer – bei Singer. Dessen kleines Atelier am Rostocker Ulmenmarkt schmiegt sich zwischen einen Handy- und einen Hörgeräteladen. Es ist ein schlichter Raum: Regale mit Farbkanistern, Werkzeugen, Krimskrams, ein Tisch, Laptop, Stative, Kleiderständer. Direkt an das Atelier schließt sich die Wohnung mit meinem Auszeit-Zimmer an.

Ausprobieren, schauen, alles ist möglich.
Doch zunächst keine Musik, sondern ohrenbetäubendes Dröhngewummerscheppern. Singer, ein großer Mann mit kurz geschorenem grauem Haarkranz beugt sich über einen elektrischen Rührer. Mit einer Ernsthaftigkeit und Neugier, wie sie sonst nur Kinder aufbringen, sucht der 63-Jährige nach dem perfekten Rezept, um seine Holz-Rohlinge in der Maschine zu entgraten: schwungvoll geformte Haarspangen und Broschen. Er siebt das Schleifmaterial durch die Finger, meint, die Glasmurmeln machen zu viel Krach, Motto: ausprobieren, schauen, alles ist möglich. Er gibt mehr Reis dazu, Erbsen, kontrolliert die Kanten der Werkstücke, nickt. Absolut glatt. Morgens Schmuck rein, abends raus, fertig – Zeit gespart.

Zeit braucht der Mann. Zeit für seine vielen Leben, das Leben des Tangolehrers etwa. Tango ist Gehen, ohne Stolpern, sagt Singer lapidar. Seine glühenden Augen verraten jedoch: Und so viel mehr! Er tippelt theatralisch auf mich zu, rückt seinen Hut gerade. Wir wirbeln durchs Atelier. Der Tisch lehnt an der Wand. Kein Dröhngewummerscheppern. Bandoneon, Violine und Piano erfüllen den Raum – klagende, leidenschaftliche Musik. Mache ich einen voreiligen Schritt, kaschiert Singer meinen Patzer, zieht ein vermeintlich zu lahmes Bein mit den Händen nach. Als läge es an ihm! Meine Aufgabe ist, zwinkert er mir zu, meine Partnerin gut aussehen zu lassen. Ich lache. Du umgibst dich gern mit gut aussehenden Frauen? Ja. Drehung, Rückacht, Promenade. Und mit einer solchen Frau zu tanzen, kann besser sein als Sex.

Jemand hat Wein mitgebracht.
Ich glaube ihm. Meine Café- und Theaterpläne habe ich längst vergessen. Das macht der Tangovirus. Der hat auch die blankbesohlten Paare infiziert, die zum Unterricht streben. Meine Familie, stellt Singer sie vor. Küsschen rechts, Küsschen links. Jemand hat Wein mitgebracht. Gelächter. Tanzhungriges Hufescharren. Los geht’s! Rückacht, Seitschritt, Karussel.

Mit Singers fünf bis sieben anderen Leben mache ich Bekanntschaft, als wir später am Abend den Wein köpfen. Er spielt auf der Gitarre, erzählt von früher. In Kiel, sagt er, kennen mich die Leute. Seine Finger fahren virtuos über die Saiten. Einmal gingen die Mitglieder der Band plötzlich einer nach dem anderen von der Bühne. Ich blieb allein sitzen und musste Solo spielen – mehrere Minuten lang! Ich dachte, verdammt, was machen die? Aber alle waren begeistert! Singer rockt drauflos. Dann wechselt die Melodie, wird balladiger. Das ist für mein Buch, das habe ich selbst geschrieben. Ich frage: Die Musik oder das Buch? Na, beides.

Sein Abenteuerroman, „Die Rock ‘n’ Roll-Piraten“, ist halb fertig und soll ein großer Wurf werden. Darunter mache ich es nicht, grinst er. Ich glaube ihm. Allmählich glaube ich an die tollsten Dinge. Singer hat eine unwiderstehliche Alles-ist-möglich-Mentalität. Ich will das auch, merke ich, das Leben beim Schopf packen, ausprobieren, umkrempeln, tanzen! Ich: Wie lang wird das Buch denn? Er: Wie bei Tolkien. Ich: Klar. Keine Ironie. Der Roman muss ein Wälzer werden, eine Wucht, was sonst? Versonnen nehme ich einen Schluck Wein, lausche Singers Stimme. Er hat angefangen Gedichte zu rezitieren, melancholische Verse, die offenbaren, dass er auch eine verletzliche Seite hat. Wäre Singer knapp 30 Jahre jünger, ich befände mich ernsthaft in Gefahr …

Als er in meinem Alter war, hatte Singer als Maschinist an Bord eines Handelsschiffes bereits die sieben Weltmeere überquert und je eine Karriere als Rettungsschwimmer, Maler und Unternehmer hinter sich.

Es ist die Phase des Erkundens und Staunens, des großen Glücks.
Findest du, ich bin ein guter Lehrer?, reißt er mich aus den Gedanken. Klar finde ich das. Er lächelt. Ich möchte nämlich Fotoworkshops geben. Tu das unbedingt! Singer holt eine Digitalkamera. Da ist er wieder, dieser glühende Blick wie beim Tango. Er tätschelt zärtlich das schwarze Plastikgehäuse. Singers Leben als Fotograf ist noch jung, eine neue Liebe. Es ist die Phase des Erkundens und Staunens, des großen Glücks. Wir reden die halbe Nacht über Gegenlicht, Iso-Werte, externes Blitzen und Photoshop. Und über Sinn und Unsinn des Lebens. Er: Wenn ich irgendwann aufwache und nicht mehr weiß, was ich mit dem Tag anfangen soll, ist es vorbei. Dann segle ich aufs Meer hinaus und komme nicht zurück.

Als meine Auszeit um ist und ich mit zertanzten Schuhen und einem Pack Blitzlicht-Porträts im Gepäck abreise, will ich es konservieren, dieses Singer-Gefühl, will es zu meinem eigenen machen. Nur wie? Liebes Rostock, lieber Reinhard, ich komme wieder!

 

Maria_DittmannGastautorin Maria Dittmann ist freie Journalistin aus Dresden und schreibt unregelmäßig für transform. Auch die Illustration ist von ihr.

 

 

 

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